Kapitulation oder Panikmache?

In der deutschen Publizistik scheinen sich Wellen von Islamkritik und -freundlichkeit abzuwechseln. Die Gesellschaft ist in ihrer Wahrnehmung der Einwandererreligion tief gespalten. Aber allmählich nimmt die gegenseitige Kenntnis zu. Von Gregor Taxacher

In den letzten Jahren schien es so, als sei nicht der Islam, sondern die Islamkritik in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen. Lange wurde sie eher vorsichtig geäußert, wollten doch die meisten Publizisten nicht in den Geruch fremdenfeindlicher Ressentiments geraten. Multikulturalität und Toleranz waren eher links verortet, die Leitkultur-Debatten überließ man den Konservativen. Doch dann überdeckte die internationale Islamismus-Auseinandersetzung die deutsche Befindlichkeit.

Dafür sorgten Autorinnen und Autoren aus einem liberalen und emanzipatorischen Milieu, die dem Islam die Fähigkeit oder Neigung absprachen, in einer aufgeklärten westlichen Demokratie anzukommen: Necla Kelek ist Soziologin türkischer Herkunft, Alice Schwarzer Symbolfigur des Feminismus und Thilo Sarrazin ein Sozialdemokrat, Ralph Giordano und Henryk Broder sind jüdische Publizisten.

Konservativer Multikulturalismus

Buchcover Die Panikmacher von Patrick Bahners
Schreckgespenst Islam: In seinem Buch geißelt Bahners einen deutschen Wahn, der "die Hilfstruppen von Ahmadinedschad und al-Qaida einen verdeckten Krieg in unserem Alltag führen" sieht.

​​Vielleicht ist es also nur konsequent, wenn jetzt ein bekennend konservativer Publizist der Sorge vor der "Kapitulation" (Broder) die Warnung vor "Panikmachern" gegenüber dem Islam entgegenstellt: Patrick Bahners, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, plädiert in seinem gleichnamigen Buch für eine Art konservativen Multikulturalismus, der den Staat nicht als obersten Erzieher ansieht und in der Gesellschaft innerhalb der Grenzen der Gesetze unterschiedliche Wertorientierungen und Lebensweisen akzeptiert – auch solche, die dem westlich säkularen Selbstverständnis suspekt vorkommen mögen.

Dabei bestreitet Bahners nicht die Gefahren, die von einem tatsächlich politisch radikalen Islam ausgehen. Aber er geißelt einen deutschen Wahn, der "die Hilfstruppen von Ahmadinedschad und al-Qaida einen verdeckten Krieg in unserem Alltag führen" sieht. Dagegen setzt er auf einen Mehrheitsislam der Einwanderer, der sehr wohl integrationsbereit sei. In Deutschland würden stets – völlig unempirisch – Extrem- oder Minderheitenprobleme auf die Wahrnehmung der großen Mehrheit der Muslime übertragen.

Islam in Deutschland angekommen?

Bahners setzt also darauf, dass Muslime wie der oberbayerische Imam Benjamin Idriz tatsächlich für die schweigende Mehrheit der deutschen Muslime sprechen. Idriz hat jüngst ein Buch unter dem Titel Grüß Gott, Herr Imam geschrieben, in dem er nicht nur nachweisen möchte, dass seine Religion hierzulande angekommen sei, sondern auch die Vereinbarkeit des Islam mit Demokratie und Menschen- sowie Frauenrechten vertritt.

Damit spricht er wiederum Musliminnen wie Lamya Kaddor aus dem Herzen, die ihm bescheinigt: "Im gelebten Glauben der meisten Muslime ist seine Vorstellung von Religion zu großen Teilen längst Realität."

Kaddor hat als Religionspädagogin ein Schulbuch für den islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache erarbeitet; und sie hat den Liberal-Islamischen Bund gegründet. Der soll deutlich machen, dass die traditionellen Islam-Verbände in Deutschland nicht repräsentativ sind. Aus ähnlichen Motiven arbeitet in Köln schon seit Jahren ein Zentrum für islamische Frauenforschung und -förderung, dessen Protagonistinnen eine Art feministische islamische Theologie entwickeln wollen.

Wer ist ein Muslim?

Ausnahmen – sagen Islamkritiker zu solchen Phänomenen. Tatsächlich besteht das Problem in einer äußerst dürftigen empirischen Datengrundlage über den Islam in Deutschland. Das fängt schon bei deren Gesamtzahl an: Die Erhebung des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration von 2009 hat diese gegenüber früheren Schätzungen auf 4 bis 4,5 Millionen erhöht.

 Der Penzberger Imam Benjamin Idriz (Mitte) gemeinsam mit Gönül Yerli vom Islamischen Forum und Bischof Friedrich in der Penzberger Moschee; Foto:
Offen für zeitgemäße Islaminterpretationen: Der Penzberger Imam Benjamin Idriz (Mitte) hat mehrfach dazu aufgerufen, den Sinn des Korans in die heutige Sprache zu übertragen.

​​Aber wer ist ein Muslim? Weil es in islamischen Moscheegemeinden keine Mitgliedslisten, keine den christlichen Taufscheinen vergleichbare Zugehörigkeitsausweise gibt, wird einfach die Zugehörigkeit zu traditionell muslimischen Herkunftsethnien zugrunde gelegt. Auch dagegen hat sich schon eine Organisation gegründet: der Zentralrat der Ex-Muslime, der sich gegen die Festlegung "Einmal Muslim, immer Muslim" wendet.

Die größte islamische Organisation in Deutschland, DITIB, zählt etwa 150.000 Mitglieder, Milli Görüs gerade einmal 27.000 – und alle weiteren Moschee-Dachverbände noch viel weniger: Die meisten Muslime sind traditionell religiös verwurzelt, religions-politisch engagiert sind sie jedoch nicht.

Außerdem gibt es nicht "den" Islam in Deutschland: Nach Angaben von REMID, einem unabhängigen religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst, leben in Deutschland neben gut 2,5 Millionen Sunniten etwa 400.000 Aleviten, die sich nicht dem traditionellen Sunni-Islam zuordnen lassen. Und neben der konfessionellen gibt es die nationale Vielfalt: Türkische oder gar afrikanische Muslime haben mit denen aus Saudi-Arabien, was die Herkunfts-Prägung angeht, eher wenig gemeinsam.

"Langweiligere Bücher über den Islam"

Frauen muslimischen Glaubens am Tag der offenen Moschee in Deutschland; Foto: dpa
Bunte konfessionelle Vielfalt: In Deutschland leben neben den rund 2,5 Millionen Sunniten etwa 400.000 Aleviten, die sich nicht dem traditionellen Sunni-Islam zuordnen lassen.

​​"Die künftigen Bücher über den Islam in Deutschland werden langweiliger werden", prophezeit Thomas Lemmen, ehrenamtlicher Geschäftsführer der Christlich-Islamischen Gesellschaft in Deutschland. Er führt die aufgeregten Bücher der letzten Jahre auf ein Defizit der westlichen Islamwissenschaften zurück: Allzu lange verstand sie sich als reine Orientalistik, Forschung über Muslime außerhalb ihrer Herkunftsländer gab es kaum.

Die Lücke besetzten selbsternannte Experten, die zu Pauschalurteilen neigten und den Medien jene plakativen Antworten gaben, die sie hören wollten. "Natürlich ist Kritik an manchen Phänomenen des Islam berechtigt", meint Lemmen. "Aber künftig wird sie mit mehr Sachverstand verbunden sein müssen."

Mehr Sachkompetenz entsteht auch auf islamischer Seite: Inzwischen gibt es sieben Lehrstühle für islamische Religionspädagogik in Deutschland. Hier werden islamische Religionslehrer und Imame ausgebildet – endlich also einheimische Intellektuelle der Einwandererreligion. Im Südwestrundfunk sprechen Muslime das Wort zum Freitag, das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) veröffentlicht im Internet ein Forum am Freitag. Also hört man in Deutschland differenziertere Stimmen des Islam und nicht nur Stimmen über ihn.

Dass die Debatte sich zu verschieben beginnt, liegt also an einer nachhaltigen Integration des Islam in die deutsche Wirklichkeit, die sich alltäglicher und tiefgreifender vollzieht, als die Islamkritik sie wahrnimmt. Lemmen verweist auf ein Projekt, in dem muslimische zusammen mit christlichen Notfallseelsorgern ausgebildet werden: "Das ist die Realität, die gegen die Rede von Abschottung und Parallelgesellschaft steht".

Georg Taxacher

© Goethe-Institut e. V. 2011

Gregor Taxacher ist Theologe und arbeitet als Redakteur des Westdeutschen Rundfunks sowie als freier Autor (Schwerpunkt unter anderem: Christentum, Judentum und Islam) in Köln.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de