Wie Transvestiten musikalische Traditionen erneuern

Acht Männer treten in Casablanca auf einer improvisierten Bühne auf. Das Besondere dabei ist, dass sie Frauenkleider tragen und so das historische Genre der beduinischen Aita-Musik wieder aufleben lassen, die fast in Vergessenheit geraten ist. Von Mariam Qamar

Von Mariam Qamar

Mit ihren Auftritten stieß diese erst kürzlich gegründete Band namens "Cabaret al-Shaikhat" – auf Deutsch "Kabarett der Folk-Diven" – beim konservativen Teil der marokkanischen Bevölkerung auf erhebliche Kritik. Die Reaktionen ähnelten denjenigen auf die Rockband "Mashrou' Leila", die letztes Jahr in Marokko auftrat. Der Grund: Die libanesische Band vertritt umstrittene soziale und politische Ansichten, ganz zu schweigen davon, dass ihr Frontmann Hamed Sinno offen schwul ist.

Beim progressiveren Teil der jungen Generation Marokkos ist "Cabaret al-Shaikhat" hingegen ziemlich populär. Laut Ghassan Al-Hakim, dem Bandleader von "Cabaret al-Shaikhat", besteht wohl der kontroverseste Aspekt ihrer Auftritte darin, dass sie als Transvestiten einen "visuellen Schock" auslösen. Wenn die bärtigen Bandmitglieder auf der Bühne erscheinen, tragen sie Frauenkaftane und Make-up wie Eyeliner und dunklen Lippenstift.

Laut Angaben der weltweit tätigen Public-Relations-Firma ASDA'A Burson-Marsteller gehören 55 Prozent der marokkanischen Jugend dem konservativen Lager an. Dass "Cabaret al-Shaikhat" auf hitzige Reaktionen stößt, war daher zu erwarten. Aber Kritiker, die keine Transvestiten akzeptieren, sind gewiss nur ein Aspekt dieses neuen Bandphänomens. Von vielen ihrer Anhänger wird die Band hingegen dafür bewundert, dass sie eine uralte Form der marokkanischen Kunst wieder ins Leben zurückruft.

Traditionelle beduinische Klänge als Inspirationsquelle

Wie Bandmitglied Hamid al-Khaiat berichtet, wurden die Bandmitglieder ursprünglich von einem Theaterstück inspiriert. Darin ging es um die Geschichte junger männlicher Verehrer der beduinischen Aita-Musik. In dem Stück versteckten sich Männer jede Nacht in einem Badehaus, zogen sich wie weibliche Folksängerinnen an und imitierten deren Auftritte.

Die Anfänge der Band waren zunächst bescheiden: Ihren ersten Auftritt hatten "Cabaret al-Shaikhat" im Mai 2016 in einem Restaurant in Casablanca. Die Vorführung wurde vom Publikum gelobt, was die Männer dazu bewegte, weiterzumachen. Wirklich bekannt wurden sie dann im letzten Sommer durch ihren Auftritt beim Boulevard-Festival in Casablanca.

Bandmitglied von "Cabaret al-Shaikhat" beim Auftritt in Casablanca; Foto: Raseef 22
Populär bei Marokkos jüngerer Generation: Wirklich bekannt wurden "Cabaret al-Shaikhat" im Sommer 2017 durch ihren Auftritt beim Boulevard-Festival in Casablanca. Inspiriert wurden die Bandmitglieder ursprünglich von einem Theaterstück. Darin ging es um die Geschichte junger männlicher Verehrer der beduinischen Aita-Musik. In dem Stück versteckten sich Männer jede Nacht in einem Badehaus, zogen sich wie weibliche Folksängerinnen an und imitierten deren Auftritte.

Wie Al-Hakim erzählt, trugen die Bandmitglieder damals noch keinen Bart und sahen noch nicht so maskulin aus wie heute. Er findet die Idee faszinierend, dass sich junge Männer aus ganz Casablanca zu einer Band formieren nur aufgrund ihrer gemeinsamen Liebe zur Aita-Musik. Damals besuchten sie verarmte Stadtteile, in denen das typische Bild viriler maskuliner Männer vorherrscht –  und wurden dort trotzdem warm empfangen. Falls nötig, erzählt Al-Hakim, sei das Publikum in diesen Stadtteilen sogar bereit, die Band zu beschützen.

Eine feministische Aktion von Männern?

Einige Beobachter interpretieren die Auftritte der Band als "feministische Aktion". Zu ihnen gehört auch Zainab Fasiki, eine Comic-Autorin und Frauenrechtlerin, die sehr stolz auf "Cabaret al-Shaikhat" ist, da die Band "etwas tut, was in unserer Gesellschaft mutig und einmalig ist. Als Mann Frauenkleider zu tragen, ist hier weder normal noch akzeptabel."

"Sie fördern damit auch den Status weiblicher Folksängerinnen und weisen auf die Bedeutung dieser Frauen hin, die ein integraler Teil unserer Kultur sind", fügt sie hinzu. "Solche mutigen Künstler brauchen wir dringend, weil es bei uns so viele Tabus gibt, die wir brechen müssen."

Gegenüber dem Magazin Al-Yaoum24 sagt Al-Hakim, dass die Band "die Frau und ihre Ziele und Rechte unterstützt, die auf dem Prinzip der Koexistenz mit dem Mann beruhen". Allerdings hat die Band keine weiblichen Mitglieder. Frauen dürften noch nicht einmal bei den Proben zuschauen, da "die Anwesenheit einer Frau dazu führt, dass wir ihre Weiblichkeit imitieren, und wir wollen nicht die Rolle einer typischen Frau spielen. Wir verlassen uns lieber auf unsere Vorstellungskraft", so Al-Hakim.

"Indem wir uns wie weibliche Folksängerinnen kleideten, haben wir verstanden, wie schwer es ist, eine Frau zu sein", fügt er hinzu. "Plötzlich waren wir den gleichen lästigen Blicken ausgesetzt, wie Frauen sie etwa achtzig Mal am Tag aushalten müssen. Daraufhin konnten wir die Lage der Frauen noch besser nachempfinden."

Bandmitglieder von "Cabaret al-Shaikhat" bei ihrem Auftritt in Casablanca; Foto: Raseef 22
Solidarisch mit den Frauen Marokkos: „Indem wir uns wie weibliche Folksängerinnen kleideten, haben wir verstanden, wie schwer es ist, eine Frau zu sein“, berichtet Bandmitglied Al-Hakim. "Plötzlich waren wir den gleichen lästigen Blicken ausgesetzt, wie Frauen sie etwa achtzig Mal am Tag aushalten müssen. Daraufhin konnten wir die Lage der Frauen noch besser nachempfinden."

Mehrmals äußerten die Bandmitglieder die Ansicht, sie würden weibliche Folksängerinnen – die durch die französische Besatzung "diffamiert" wurden – dadurch verteidigen, dass sie auf ihre historische Situation hinweisen. Vor ihrem eigentlichen Auftritt erzählen "Cabaret al-Shaikhat" oft Geschichten über diese Frauen. Dabei betonen sie deren Rolle als politische Aktivistinnen und spirituelle Führerinnen, die mutig der Besatzung standhielten. So vermittelt die Band ihrem Publikum, wie die Frauen damals edle Prinzipien wie Ehrlichkeit oder Liebe hochhielten.

Auch der Wissenschaftler Mohamed Ramses schreibt in einem Artikel in der marokkanischen Zeitung Al-Maghress, die weiblichen Folksängerinnen "spielten eine patriotische Rolle, indem sie sich gegen den Missbrauch von Macht wehrten. […] Außerdem riefen sie zur Vertreibung der Besatzer auf."

Ein Symbol für Ehrenhaftigkeit

Darüber hinaus, so Ramses, waren sie ein "Symbol für Ehrenhaftigkeit. Die Würdenträger baten sie, auf ihren privaten Partys aufzutreten. […] Durch die Logik des Marktes und die Behörden der Besatzer wurden sie allerdings von einem Symbol des Widerstands zu einer billigen Handelsware gemacht."

Sogar der Tourismus ist dafür mitverantwortlich, dass sich die "Al-Shaikhat", die die marokkanische Identität und die Tiefe der authentischen Tradition verkörperten, von [einem Ausdruck] lokaler Kreativität in einen reinen Blickfang verwandelten, der nur noch Touristen anlocken oder ähnliche Zwecke erfüllen sollte.

Ramses erklärt, viele dieser Folk-Diven hätten damals herabwürdigende Namen bekommen. So wurde der Hass gegen tanzende und singende Frauen geschürt und alles, wofür die weiblichen Folksängerinnen standen, zerstört.

Laut dem Forscher und Historiker Yones Masoudi entstand die Tradition der Aita im 19. Jahrhundert. Unter marokkanischen Beduinen kursierten damals berühmte Geschichten über die "Al-Shaikhat" auf der einen und große Führungspersönlichkeiten auf der anderen Seite, die zwei soziale und politische Realitäten während dieser Periode widerspiegelten.

Tatsache ist allerdings, dass die Aita noch weit vor diese Ära zurückreicht. Sie war die Kunst, die während der islamischen "Invasion" in Marokko und anderen Ländern die Ankunft der arabischen Stämme dokumentierte. Darüber hinaus drückte sie die kulturelle Mischung zwischen den neuen arabischen Beduinen und den eingeborenen Berbern aus.

Die bekannte Sheikha Mubarka al-Bahishiah aus der Stadt Beni Mellal repräsentierte ihren Stamm beispielsweise durch ihre Dichtkunst. Für ihre Lieder über Heirat war sie bis ins frühe 20. Jahrhundert berühmt. Dann aber kam die französische Besatzung, die ihr große Probleme bereitete: Ihre revolutionären Gedichte stachelten Krieger an, für ihre Freiheit zu kämpfen und die Franzosen zu töten. Dadurch geriet sie ins Visier der Besatzer und war schließlich gezwungen, in die Berge zu fliehen, um ihrer Ermordung zu entgehen.

Außerdem wurde die Aita in Marokko laut Abdel-Salam Al-Khalofy von der Musik des Ostens überschattet. Wegen der schwierigen marokkanischen Umgangssprache hätte sich die Aita in der Region nicht weiter verbreiten können. Der Bandleader von "Cabaret al-Shaikhat" ist allerdings entschlossen, das Kulturerbe dieser Musik, das so lange von Ikonen wie Umm Kulthum, Abdel Halim Hafez oder Fayrouz verdrängt wurde, zu erneuern.

Mariam Qamar

© Raseef 22

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff