Vom 11. Jahrhundert zum 11. September?

Noch immer werden in den Feuilletons islamistische Selbstmordattentäter mit den Assassinen des Mittelalters in Verbindung gebracht. Doch lassen Märtyrerkult und Meuchelmord dieser Sekte wirklich Rückschlüsse auf das Selbstverständnis heutiger radikal-islamischer Bewegungen zu? Von Arian Fariborz

Von Arian Fariborz

 

Assassinen Irans (photo: &copy www.ci-ce-ct.com )
Sie sorgten im Mittelalter für Aufruhr und Schrecken, waren verschrieen als Meuchelmördersyndikat oder satanischer Geheimbund: die Assassinen Irans und Syriens.

​​Persien im 11. Jahrhundert – eine Zeit des raschen Aufstiegs und Niedergangs islamischer Dynastien: Turkvölker erobern die großen Städte Ostirans und zwingen den abbassidischen Kalifen von Bagdad schließlich, sich zu beugen. Das Sultanat der Seldschuken entsteht – ein neues Großreich, das sich von Zentralasien bis nach Syrien erstreckt. Die islamische Welt ist in mehrere Machtzentren gespalten. Die sunnitischen Seldschuken im Osten, das Gegenkalifat der Fatimiden in Ägypten sowie der Maghreb und Andalus im Westen.

In diese Zeit fällt auch die Geburtsstunde einer radikalen schiitischen Sekte, die sogenannten Nizari-Ismailiten unter ihrem Führer Hassan-i Sabbah – besser bekannt als die Assassinen. "Eine Sekte in der Sekte" – handelte es sich hierbei doch um eine Abspaltung der schiitischen Fatimiden, die wiederum von der sunnitischen Orthodoxie als Häretiker betrachtet wurden.

Meuchelmord als Mittel zur Herrschaftssicherung

Inmitten des seldschukischen Machtzentrums, in den entlegenen Bergregionen Nordirans, errichtete Hassan-i Sabbah mit seinen Anhängern hohe Trutzburgen – gegen die seldschukischen Herrscher, denen die ismailitischen Ketzer recht bald ein Dorn im Auge waren, erzählt der Islamexperte Thomas Scheffler vom Berliner Otto-Suhr-Institut: "Es kam zur Verfolgung dieser Sekte und sie hat dann zum Teil ihre Verfolger ermorden lassen durch Sendboten, die sich an die Höfe der Seldschukensultane einschlichen", so Thomas Scheffler. "Dort gewannen sie das Vertrauen der Kalifen, erdolchten sie schließlich und liefen oft nicht weg – so dass man das als Vorboten der Selbstmordanschläge ansehen kann."

Meuchelmord als probates Mittel zum Zweck der eigenen Herrschaftssicherung – brachten die Assassinen doch mit ihren Anschlägen das Machtgefüge im Seldschukenreich gewaltig ins Wanken: Denn die Ermordung von hohen islamischen Würdenträgern und Regenten zog oft lange Diadochenkämpfe nach sich. Wertvolle Zeit, die der kleinen Assassinensekte ermöglichte, ihre Macht weiter zu festigen.

Zahlreiche Mythen und Legenden ranken sich um ihren Führer Hasan-i Sabbah, der seinen willigen Vollstreckern – den sogenannten "fida'is" – das Paradies auf Erden vorgaukelte, um sie dann für seine Mordaufträge zu gewinnen. Dazu wurden die Ausgewählten angeblich mit Opium betäubt und in einen eigens hergerichteten Garten Eden geleitet.

Elitekämpfer im Krieg gegen die "Feinde des Imam"

Der Mord am seldschukischen Großwesir Nizam al-Mulk 1092 bildete den Auftakt für eine jahrzehntelang anhaltende Mordserie gegen die sunnitische Othodoxie. Dabei betrachteten sich die Assassinen als Elitekämpfer im Krieg gegen die erklärten "Feinde des Imam" und nicht etwa als ruchlose Mörder, Ketzer oder Verschwörer gegen den Islam.

Alamut; Foto: &copy Wikimedia Commons
Trutzburgen gegen die erklärten "Feinde des Imam": die Assassinen-Festung Alamut in Persien.

​​Ging es ihnen doch darum, einen messianischen Staat im schiitischen Sinne aufzubauen. Die Tatsache, dass sie dabei vermeintliche sunnitische "Unterdrücker" und "Ursupatoren" niederstreckten, lieferte ihnen den Beweis für ihre Glaubensstärke und Loyalität, womit sie den direkt ins Paradies eingingen. Angesichts von Märtyrertum und Opferkult sehen viele zeitgenössische Publizisten und Autoren in den Assassinen die Urform heutiger radikal-islamischer Bewegungen: von der palästinensischen Hamas bis zu den Selbstmordattentätern vom 11. September.

Ein unzutreffender Vergleich, meint der Publizist und Islamwissenschaftler Navid Kermani: "Es gibt einen Märtyrerkult innerhalb des Islams. Innerhalb dieses Märtyrerkults sind die Assassinen eine Sonderform gewesen", so Kermani. "Allerdings ist dieser Märtyrerkult dezidiert schiitisch, d.h. sie finden bei den Schiiten durchaus eine Bereitschaft zum ostentativen Leiden, zur Selbstaufopferung."

Schiitische Sonderrolle

Dieser Martyriumskult habe sich in Opposition zum sunnitischen Islam herausgebildet, meint Kermani: "Man kann also nicht einfach sagen, hier liegt eine ganz klare kontinuierliche Linie vor – also von den Assassinen, die ein dezidiert schiitischer Sonderkult waren – auch nicht typisch für den schiitischen Islam, aber innerhalb des schiitischen Islams einen Platz hatten – hin zu den sunnitischen Attentätern. Hier kommen Dinge aus ganz verschiedenen Kontexten zusammen."

Betrachtet man die Geschichte der Suizidanschläge im Nahen Osten seit Anfang der 80er Jahre, so wird deutlich, warum die Annahme einer Traditionslinie, die von den heutigen Anschlägen bis zu den Assassinen zurückgeht, ins Leere läuft. Am 11. November 1982 steuerte Ahmad Kassir einen Lastwagen in das Hauptquartier der israelischen Besatzungstruppen in Tyrus im Libanon, 140 Menschen kamen bei diesem Attentat ums Leben.

Noch mehr Aufmerksamkeit riefen einige Monate später die Anschläge auf die Botschaft und Kasernen der USA hervor. All diese Angriffe gingen auf das Konto einer radikalen schiitischen Terrorgruppe: der Hisbollah. Die Hisbollah war angetreten, den Libanon von ausländischen Besatzern zu befreien und einen religiösen Staat zu errichten. Ideologisch und materiell wurde sie dabei durch die islamische Republik Iran unterstützt. 1979 hatte der schiitische Klerus unter Ayatollah Khomeini dort die Macht übernommen und einen Gottesstaat errichtet.

Shahid-Mythos und irregulärer Krieg

Begräbnis eines Hamas-Aktivisten; Foto: dpa
Zusammenhänge zwischen der Praxis des religiösen Mordes bei den Assassinen und modernen radikal-islamistischen Gruppen sind weit hergeholt und historisch abwegig.

Schon vor und während der Revolution gelang es Khomeini vor allem mit dem im Schiitentum tief verwurzelten Märtyrer- oder Shahid-Mythos, die Massen zu mobilisieren. Von existenzieller Bedeutung wurde dieser Mythos im Iran-Irak-Krieg von 1982 bis 1988. Tausende Freiwillige, oftmals Kinder und Jugendliche wurden in den Tod gestürzt – in Erwartung, durch ihr Selbstopfer ins Paradies einzugehen.​​

War das religiöse Martyrium hier also Massenphänomen zur Verteidigung des Gottesstaates, so wurde es in Händen der libanesischen Hisbollah zur gezielt eingesetzten Waffe im irregulären Krieg gegen die Besatzungsmacht Israel. Doch lässt sich die Tradition des Selbstmordes im politischen Islam wirklich von den Assassinen des 11. Jahrhunderts bis zum 11. September 2002 nachzeichnen?

"Es gibt keinen Text, weder von Usama bin Laden, noch von al-Qaida, noch von Hisbollah, noch von Hamas, wo in irgendeiner Weise eine Anknüpfung an die Assassinen versucht wird", meint jedenfalls Thomas Scheffler. "Es würde auch der ganzen Ideologie dieser Gruppen widersprechen, weil diese Assassinen aus orthodox-sunnitischer und orthodox-schiitischer Sicht schlicht Häretiker waren, mit denen man nichts zu tun haben will."

Feuilletonistische Legenden

Abgesehen davon sind die Erinnerungen an den "Alten vom Berge" oder Hassan-i Sabbah in seiner Trutzburg Alamut, der seine willigen Emissäre mit einem Dolch ausstattete und in den Märtyrertod schickte in der islamischen Welt längst verblasst, meint auch Navid Kermani: "Die Assassinen, Hassan-i Sabbah und der Berg Alamut – all diese Dinge haben in einer heutigen, schiitischen Welt praktisch keine Relevanz mehr, man kennt sie kaum noch. Wenn man heute in den Iran fährt und fragt, wo Alamut ist, würden die wenigsten eine Antwort darauf wissen, weil sie einfach nicht mehr Teil des kulturellen Gedächtnisses sind."

Als mythenumrankte Terrorsekte und spektakuläre Attentäter mögen die Assassinen ihren Platz in der Geschichte des Nahen Ostens haben. Als ideologische Köpfe eines modernen, radikalen Islamismus taugen sie indes nicht. Die These von der bis ins Mittelalter zurückreichenden Tradition des islamischen Selbstmordattentats zeigt sich als das was sie ist: eine weitere feuilletonistische Legende über die Welt des Islams, die einer seriösen Forschung des islamistischen Terror der Gegenwart abträglich erscheint.

Arian Fariborz

© Qantara.de 2008