Lächerliches Gezerre

Die nahöstlichen Nachbarstaaten haben bis heute vier Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Daher sollte sich die EU vor Augen führen, dass Europa trotz voller Bahnhöfe nur einen relativ kleinen Teil des gegenwärtigen Flüchtlingsproblems schultert. Ein Debattenbeitrag von Karim El-Gawhary

Von Karim El-Gawhary

Angela Merkel mit Engelsflügeln und deutsche Züge, auf denen auf Arabisch "Herzlich Willkommen" gesprüht ist, machen in den sozialen Medien in der arabischen Welt derzeit die Runde.

Und auch über die Rolle Österreichs ist man in arabischen Twittermeldungen voll des Lobes: "Obwohl die meisten Flüchtlinge eine andere Religion haben, anders aussehen und eine andere Sprache sprechen, sind 20.000 Wiener für die Flüchtlinge auf die Straße gegangen", heißt es in einem arabischen Tweet anerkennend. Deutschland und Österreich stehen derzeit hoch im Kurs bei vielen Arabern.

Auf Unverständnis stoßen dagegen Argumente, dass "das europäische Boot voll" sei – tragen doch die Nachbarländer Syriens mit derzeit vier Millionen registrierten Flüchtlinge in dieser Krise eine Bürde, die jenseits der europäischen Vorstellungskraft liegt.

Im kleinen Libanon ist derzeit mindestens jeder vierte Bewohner ein syrischer Flüchtling. Das wären auf Deutschland umgerechnet 20 Millionen, in Österreich zwei Millionen Flüchtlinge. In der Türkei leben zwei Millionen Syrer. Und auch das kleine Jordanien hat rund 630.000 aufgenommen. Vor diesem Hintergrund nimmt sich die europäische Flüchtlingskrise für diese Staaten als Mini-Krise aus.

Fehlende Hilfsgelder für das UNHCR

Und genau diese Staaten, die bislang das Gros der Flüchtlinge aufgenommen haben, fühlen sich vom Rest der Welt und auch vom europäischen Nachbarn derzeit alleingelassen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk bräuchte für das laufende Jahr finanzielle Zuwendungen in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar, um die dortigen Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen. Bisher wurden jedoch weniger als 40 Prozent dieser Summe eingezahlt. Das heißt konkret, dass Flüchtlingshilfen, wie etwa im Libanon, eingeschränkt werden müssen, zum Beispiel bei Schulprogrammen.

Flüchtlingscamp Zaatari in Jordanien; Foto: Getty Images/AFP/K. Mazraawi
Gewaltige Bürde für das haschemitische Königreich: Die Gesamtzahl der Flüchtlinge in Jordanien wird von der UNO mit 600.000 angegeben. Experten gehen zudem von einer hohen Zahl nicht registrierter Flüchtlinge in dem Land aus, das selbst nur 6,5 Millionen Einwohner hat. Die UN-Organisationen World Food Program (WFP) und UNHCR mussten bereits wiederholt aus Geldmangel ihre Unterstützung für die Menschen in den Camps zurückfahren und zum Beispiel Lebensmittelrationen massiv kürzen.

Im Moment gehen 750.000 syrische schulpflichtige Kinder nicht zur Schule. Dort geht also eine ganze Generation vor die Hunde, die eigentlich später ihr Land wieder aufbauen sollte. Wer heute schreit, dass "das europäische Boot voll" sei, der sollte wenigsten finanziell dafür sorgen, dass das libanesische, türkische und jordanische Boot nicht untergeht!

Von der Region des Nahen Ostens aus betrachtet, ist das europäische Flüchtlingsproblem als relativ zu erachten. Und trotzdem führen die Bilder von der Hilfsbereitschaft in Deutschland und Österreich auch dazu, dass man sich kritisch dem Eigenen zuwendet.

"Und was macht Ihr?!"

Seit einer Woche kursiert auf arabischen Facebook-Seiten eine Fotomontage: ein an einen Strand geschwemmtes syrisches Flüchtlingskind liegt auf dem Konferenztisch der Arabischen Liga, meist mit dem Kommentar versehen: „Und was macht Ihr?!“

Die Hauptkritik richtet sich an die ölreichen Golfstaaten, die das Syrienproblem zwar mitverursacht haben, aber sich aus der Flüchtlingskrise nun fein raushalten und die überforderten Nachbarstaaten Syriens nicht unterstützen. Auch kursiert in den sozialen Medien im arabischen Raum ein angebliches Merkel-Zitat: "Morgen werden wir unseren Kindern erzählen, dass die syrischen Flüchtlinge zu uns gekommen sind – obwohl Mekka, das Herz des Islams, doch viel näher liegt."

Flüchtlinge im türkischen Edirne; Foto: Kürsat Akyol
Transitland Türkei: Viele Menschen warten laut OECD außerhalb ihrer Heimat auf eine Weiterreise. So lebten derzeit etwa zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Dort warten zudem rund 300.000 Menschen aus Afghanistan, dem Irak und Pakistan auf einen Weg in die EU.

Merkel hat das zwar nie gesagt, doch die neuen sozialen Medien reflektieren auch in der arabischen Welt nicht nur die Wirklichkeit, sondern sie schaffen sie auch selbst. So wurde dort jüngst auch eine Diskussion losgetreten worden, warum die Golfstaaten zwar Höhenrekorde beim Bau von glitzernden Wolkenkratzern vollbringen, jedoch nicht dazu in der Lage sind, Lager für Flüchtlinge aufzubauen.

Kein "Entweder Europa oder die Golfstaaten"

Es bedurfte für die arabische Öffentlichkeit nicht nur der Berichte von Syriens überforderten Nachbarstaaten, sondern der Bilder von vielen helfenden Händen Europas, um die Golfstaaten jetzt mit einer "Schämt-Euch-Kampagne" zu überziehen. Noch nie standen die Golfstaaten dermaßen in der innerarabischen Kritik wie jetzt.

Und das Fazit der Außenansicht auf die europäische Flüchtlingskrise? In der EU muss man sich bewusst sein, dass man dort trotz voller Bahnhöfe und Toter am Rande einer Autobahn nur einen relativ kleinen Teil des Flüchtlingsproblems schultert. Und ja, vor allem die arabischen Golfstaaten, könnten mehr tun, um die Nachbarländer Syriens zu entlasten. Dabei geht es keinesfalls um ein "Entweder Europa oder die Golfstaaten": Diese Flüchtlingskrise ist zu groß, als dass irgendjemand sich herausnehmen könnte, nicht mit anzupacken.

Karim El-Gawhary

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