Dejà vu in Gaza

Seit Monaten diskutiert Deutschland über mehr außenpolitische Verantwortung. Aber beim jüngsten Krieg in Gaza hat sich die deutsche Politik doch wieder weitestgehend auf die Rolle der entsetzten Zuschauerin verlegt. Von Muriel Asseburg und René Wildangel

Von Muriel Asseburg & René Wildangel

Deutsche Politikerinnen und Politiker aller Parteien sind nicht müde geworden zu betonen, dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung habe. Zwar haben sie die zivilen Opfer beklagt. Aber sie haben auch Israels Forderung nach einer Demilitarisierung Gazas unterstützt, noch während Israel den Küstenstreifen bombardierte. Damit haben sie dem militärischen Vorgehen Israels zumindest indirekt ihre Zustimmung erteilt. Denn wer sonst außer Israel sollte die Hamas entwaffnen?

Zudem gingen von Deutschland und seinen europäischen Partnern lange keine ernstzunehmenden Initiativen für eine Waffenruhe, einen längerfristigen Waffenstillstand oder gar eine Konfliktregelung aus. Vielmehr wirkten sie nur als Statisten mit, während der amerikanische Außenminister John Kerry zunehmend hilflos aber unermüdlich versuchte, eine tragfähige Übereinkunft zu erzielen. Ein EU-Außenministertreffen in Paris am 26. Juli kam über die bloße Forderung nach einem humanitären Waffenstillstand nicht hinaus.

Seit Anfang dieses Jahres haben die Europäer auch keinen Sonderbeauftragten für Nahost mehr, der vor Ort mit den Parteien sprechen könnte. Mit der Hamas, die auf der EU-Terrorliste steht, pflegen die EU-Mitgliedsstaaten ohnehin keine Kontakte und berauben sich damit der Möglichkeit einer eigenständigen Mittlerposition und Einflussnahme. Das Nahostquartett (USA, EU, Russland und UN) spielt schon lange keine Rolle mehr. Sein noch immer amtierender Vertreter Tony Blair blamierte sich mit einer Initiative für eine Waffenruhe, die er allein mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi aushandeln wollte.

Vermittler nicht in Sicht

Während Deutschland, Frankreich und Großbritannien jüngst europäische Hilfe beim Wiederaufbau sowie bei Grenzkontrollen anboten, um so die Öffnung des Gazastreifens zu unterstützen, blieb eine aktive Vermittlungsrolle der Europäer nach wie vor aus. Auch die fortgesetzte Unterstützung Ägyptens als Hauptvermittler irritiert.

Zweifellos kommt Kairo als Nachbar und Partner Israels eine wichtige Rolle zu. Die strikt antiislamistische Haltung des Sisi-Regimes hat aber Ägyptens Fähigkeit, einen Waffenstillstand vermitteln zu können, offensichtlich deutlich reduziert. Ägypten taugt kaum noch als ehrlicher Makler zwischen Israel und der Hamas. Andere, von beiden Seiten akzeptierte Vermittler sind nicht in Sicht.

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi; Foto: picture-alliance/dpa
Kaum noch ein ehrlicher Makler zwischen Israel und der Hamas: Die strikt antiislamistische Haltung des Sisi-Regimes hat Ägyptens Fähigkeit, einen Waffenstillstand vermitteln zu können, deutlich reduziert.

Dementsprechend endete die israelische Bodenoffensive erst nach einer unilateralen Entscheidung Israels zu einem Rückzug, und dies, obwohl das anfangs ausgegebene Ziel, den Raketenbeschuss der Hamas zu stoppen, auch mit massiver militärischer Gewalt nach 29 Tagen nicht erreicht wurde. Nach wie vor sind die gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht beendet; die Gespräche über eine Waffenruhe stocken. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Netanjahu-Regierung zu vermeiden sucht, Zugeständnisse zu machen, die wie ein Nachgeben gegenüber der Hamas aussehen könnten.

Außenminister Avigdor Liebermans Vorschlag, der UN die Kontrolle des Gazastreifens zu übertragen, scheint darauf abzuzielen, die Besatzungsmacht Israel von der Verantwortung für die dortige Zivilbevölkerung und die Mitverantwortung für den desaströsen Krieg freizusprechen und die palästinensischen Gebiete dauerhaft unterschiedlichen Regimen zu unterwerfen, statt politische Einheit in einem palästinensischen Staat zu schaffen.

Nach dem Ende der Kampfhandlungen sind zunächst humanitäre Hilfe für die Bevölkerung und der Wiederaufbau von grundlegender Infrastruktur wie dem einzigen Elektrizitätswerk, Kläranlagen sowie von Schulen und Krankenhäusern, die im Krieg zerstört wurden, dringlich. All dies darf aber nicht einmal mehr auf die internationale Gemeinschaft abgewälzt werden, zumal wenn die nächste Runde kriegerischer Auseinandersetzungen bereits programmiert ist.

Den Kreislauf der Gewalt durchbrechen

Daher müsste eine Waffenstillstandsvereinbarung – im Gegensatz zu 2012 – nicht nur eine Öffnung des Gazastreifens vorsehen, sondern bereits konkrete Maßnahmen zu ihrer Umsetzung enthalten. Die bereits beim israelischen Abzug aus dem Küstengebiet 2005 von den USA vermittelten Abmachungen, die es den Palästinensern ermöglichen sollten, sich freier zu bewegen (sog. "Agreement on Movement and Access"), wurden entweder gar nicht umgesetzt oder rasch wieder außer Kraft gesetzt.

Nach dem verheerenden Krieg muss jetzt die Chance ergriffen werden, endlich den Kreislauf aus Blockade, Perspektivlosigkeit und Gewalt dauerhaft zu durchbrechen und eine Dynamik in Gang zu setzen, die auf eine Beendigung der Besatzung abzielt. Sonst droht nach 2006, 2008/2009, 2012 und 2014 einmal mehr ein Abrutschen in eine Phase der Gewalt, von der auch Jerusalem und die Westbank kaum isoliert werden können.

Um die nächste kriegerische Auseinandersetzung in Gaza zu verhindern, ist eine grundlegende Änderung des Status Quo notwendig. Dazu sollte Deutschland mit seinen europäischen Partnern eine Konferenz für Gaza anstoßen, die deutlich über ein Gebertreffen hinausgeht.

Beschuss Gazas durch die israelische Armee am 9.08.2014; Foto: Reuters
"Nach dem verheerenden Krieg muss jetzt die Chance ergriffen werden, endlich den Kreislauf aus Blockade, Perspektivlosigkeit und Gewalt dauerhaft zu durchbrechen und eine Dynamik in Gang zu setzen, die auf eine Beendigung der Besatzung abzielt", schreiben die Autoren Dr. Muriel Asseburg und Dr. René Wildangel.

Vielmehr sollte sie neben den Palästinensern vor allem die Besatzungsmacht Israel und den Anrainerstaat Ägypten in die Pflicht nehmen und die Basis für eine dauerhafte und international überwachte und garantierte Öffnung des Küstenstreifens legen. Dabei könnte dann in der Tat, wie von den europäischen Außenministern vorgeschlagen, auch eine aufgestockte Version der vormaligen europäischen Grenzmission EUBAM Rafah Aufgaben an den Grenzübergängen zu Ägypten und Israel übernehmen, unter anderem um Waffenschmuggel zu verhindern.

Ohne Bewegungsfreiheit keine Zweistaatenlösung

Schon lange haben verschiedene EU-Mitgliedstaaten angeboten, entsprechende Scanner zur Verfügung zu stellen, um Sicherheitsrisiken zu minimieren und einen reibungslosen Warenverkehr zu ermöglichen. Noch im Dezember 2013 lehnte die israelische Regierung aber die Aufstellung eines solchen von den Niederlanden zur Verfügung gestellten Geräts ab, das geeignet gewesen wäre, Exporte aus Gaza in die Westbank im Sinne israelischer Sicherheitsbedenken zu überprüfen. Daher ist essentiell, dass sich Israel und Ägypten darauf verpflichten, palästinensische Freizügigkeit und einen freien Warenverkehr zu garantieren.

Ohne Bewegungsfreiheit, die eine Verbindung zwischen Gaza, der Westbank und Jerusalem schafft, wird die ohnehin in weite Ferne gerückte Perspektive einer Zweistaatenregelung obsolet. Ohne einen geregelten Warenverkehr kann die Wirtschaft im Gaza-Streifen nicht wieder auf die Beine kommen.

Zentral sind auch die Abschaffung der von Israel verhängten Sperrzonen, die bis zu einem Drittel des Agrarlandes in Gaza der Bewirtschaftung entzogen haben, die Wiederherstellung der in den Oslo-Abkommen festgelegten Zone von 20 Seemeilen für die Fischerei, die einen wichtigen Wirtschaftszweig in Gaza darstellt, sowie der Ausbau des Hafens. Die überwiegend junge Bevölkerung im Gazastreifen braucht neue Perspektiven und Chancen, nur so – und nicht durch Bombardierungen, die zu einem Großteil die Zivilbevölkerung treffen – kann es zu einer friedlichen Koexistenz mit Israel kommen.

Hauptansprechpartner auf palästinensischer Seite muss dabei für die internationale Gemeinschaft die überparteiliche Einheitsregierung sein, die Anfang Juni auf Basis eines Abkommens zwischen Hamas und Fatah gegründet wurde. Diese Regierung wurde auch von der Bundesregierung zaghaft begrüßt, allerdings bislang kaum wirklich unterstützt.

Zumindest übten Deutschland und seine Verbündeten keine Kritik an Israel, als dieses begann, die neue Regierung aktiv zu unterminieren. Und dies, obwohl sie sich auf die sogenannten Quartettkriterien – Gewaltverzicht, Anerkennung vorangegangener Verträge, Anerkennung des Existenzrechts Israels – verpflichtet hatte. Nun gilt es, diese Regierung in die Lage zu versetzen, tatsächlich auch in Gaza zu regieren. Dafür bestehen durchaus Chancen: Derzeit verhandelt eine gemeinsame Delegation der palästinensischen Fraktionen über einen Waffenstillstand. Die Hamas hat bereits signalisiert, dass PA-Sicherheitskräfte die Übergänge auf palästinensischer Seite kontrollieren könnten.

Externe Hilfe für Friedensabkommen notwendig

Letztlich sind eine langfristige Stabilisierung und eventuell auch eine Demilitarisierung nur im Rahmen eines Friedensabkommens zwischen Israel und den Palästinensern möglich. Es liegt auf der Hand, dass es den Konfliktparteien ohne externe Hilfe nicht gelingen wird, zu einem Abkommen zu gelangen, dass die Rechte aller zwischen Mittelmeer und Jordan garantiert.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu; Foto: Reuters
"Eine Zweistaatenregelung wird ohne Konfrontation mit der Rechtskoalition von Benjamin Netanjahu kaum gelingen. Schließlich hat der israelische Premier selbst zuletzt unmissverständlich klargestellt, dass für ihn ein palästinensischer Staat unvorstellbar ist", schreiben Asseburg und Wildangel.

Deutschland sollte daher gemeinsam mit seinen europäischen Partnern die Bemühungen wieder aufnehmen, eine Sicherheitsratsresolution zustande zu bringen, die die Parameter einer Konfliktregelung vorgibt, eine robuste Vermittlung für Verhandlungen über Detailfragen innerhalb eines klaren Zeitrahmens vorsieht und die Konsequenzen eines Scheiterns von Verhandlungen klar benennt. Damit würde Deutschland seiner stets betonten besonderen Verantwortung für die Sicherheit Israels nachkommen, die es am Besten durch eine Zweistaatenregelung gewährleistet sieht.

Klar ist auch: Dies wird ohne Konfrontation mit der Rechtskoalition von Benjamin Netanjahu kaum gelingen. Schließlich hat der israelische Premier selbst zuletzt unmissverständlich klargestellt, dass für ihn ein palästinensischer Staat unvorstellbar ist. Zudem hat er in den letzten Jahren die Siedlungspolitik und Landnahme in der Westbank und in Jerusalem vorangetrieben und die Waffenstillstandsvereinbarungen von 2012 zur Lockerung der Blockade des Gazastreifens nicht umgesetzt.

Nicht zuletzt angesichts der massiven Gewalt gegen Zivilisten, die während des Gaza-Krieges auch bei Protesten in der Westbank angewandt wurde und dort zu zwölf Toten und Hunderten von Verletzten geführt hat, sollte die Bundesregierung Waffenlieferungen nach und Rüstungskooperation mit der Besatzungsmacht Israel dringend auf den Prüfstand stellen.

Auch sollte sie die Aufklärung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen unterstützen, gleich ob sie von Seiten der Hamas oder der israelischen Armee begangen werden. Und sie sollte ihren Widerstand gegen den angestrebten Beitritt Palästinas zum Internationalen Strafgerichtshof aufgeben, einer Institution, für die sich nicht zuletzt Deutschland diplomatisch stark gemacht hat, und die in der Lage ist, glaubwürdig und neutral begangene Kriegsverbrechen aufzuarbeiten.

Nicht zuletzt sollte Deutschland Israels völkerrechtswidrige Siedlungspolitik nicht länger unterstützen und in diesem Sinne nicht nur eine Kennzeichnung von Siedlungsprodukten im EU-Rahmen sondern einen Importstopp mittragen.

Muriel Asseburg & René Wildangel

© Qantara.de 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Dr. Muriel Asseburg ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin; Dr. René Wildangel leitet das Regionalbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. Eine Kurzversion dieses Beitrags ist erschienen unter: "Fremde Federn. Nicht unser Krieg?" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8.8.2014.