Als Muslim auf der Anklagebank

Obwohl sich die Mehrheit der Muslime in Deutschland vom fundamentalistischen Islam klar distanziert, ist das Misstrauen gegen sie nach den Anschlägen von Istanbul und Madrid weiter gewachsen. Süleyman Artiisik mit einer Reportage aus Berlin

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​​Eine Moschee in einem Altbauhaus mitten in Berlin-Kreuzberg. Wie fast an jedem frühen Abend haben sich Kerim Kurtcu und seine Freunde in dem geräumigen Aufenthaltsraum der Moschee zusammengefunden.

Man schlägt bis zum Abendgebet die Zeit tot und gönnt sich bis dahin noch ein Gläschen schwarzen Tee aus einem antiken Samowar. Die jungen Männer tauschen sich aus - über ihren Alltag, Fußball und über die aktuelle Politik.

Kerim Kurtcu lebt seit knapp zehn Jahren in der Hauptstadt. Er ist gläubiger Muslim und besucht täglich die Moschee. "Drei Gebete am Tag sind für jeden Gläubigen eine Pflicht", sagt er.

Der 29-jährige hat an der Fachhochschule für Wirtschaft und Technik, Informatik studiert und ist nun auf der Suche nach einem Job in einem Softwareunternehmen. Zwei seiner Freunde, die mit am Tisch sitzen, sind auch arbeitslos und halten sich mit diversen Nebenjobs über Wasser. Die meiste Zeit ihres Tages verbringen sie in ihrer Moschee.

Gewalttätiger Islam?

"Natürlich nehmen wir die Diskussionen um den Islam wahr", sagt Kurtcu. "Man braucht doch nur eine Zeitung aufzuschlagen - jeden Tag wird etwas über den Islam berichtet." Seit den Anschlägen in Istanbul und Madrid hat der islamistische Terrorismus die Weltreligion Islam noch mehr in Misskredit gebracht. Es vergeht kein Tag an dem gläubige Muslime erklären müssen, dass die Terrorakte sich nicht auf die Offenbarung Gottes im Koran berufen können.

Auch die in Deutschland lebenden rund 3,3 Muslime sind dem Druck ausgesetzt, sich vom Terror zu distanzieren. "Viele Muslime fühlen sich pauschal verurteilt", sagt Hüseyin Yilmaz, einer der Freunde von Kurtcu. "Allein die Frage: Wie stehen Sie zu dieser Aktion, zu diesen Anschlägen, beinhaltet schon eine Anschuldigung", meint der 31-jährige mit schütterem Haar und Vollbart. Die anderen nicken zustimmend.

"Wenn mich deutsche Kollegen auf der Arbeit fragen, was diese Terrorakte beinhalten, fühle ich mich genötigt, mich zu verteidigen", fügt Kurtcu hinzu. Er sieht darin aber auch eine Gelegenheit, den Islam zu erklären und weit vom Terror wegzurücken: "Der Islam kann solche Anschläge nicht rechtfertigen und nicht schützen."

Späte Distanzierung vom Terror

Viel zu lange hätten die islamischen Geistlichen in Deutschland gezögert, die Öffentlichkeit als Arena für eine Auseinandersetzung mit dem Islamismus zu nutzen, meint Yilmaz: "Worauf haben die gewartet?". Erst mehrere Tage nach den Anschlägen von Madrid, erst nach Aufforderung von deutschen Spitzenpolitikern und auf Anfrage deutscher Medien haben sich die islamischen Spitzenorganisationen in scharfer Form gegen den Terrorismus gewandt:

"Wer solche Verbrechen duldet, gut heißt oder gar deckt, macht sich der Mittäterschaft schuldig. Für solche Täter oder Mittäter wird es in unseren Gemeinden kein Verständnis, keinen Platz und keine Unterstützung geben", lautete die Erklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland und des Islamrats für die Bundesrepublik.

Für Yilmaz waren diese Sätze längst überfällig, um der deutschen Öffentlichkeit ein anderes Gesicht des Islams zu zeigen. Ginge es nach ihm, so hätten alle islamischen Gemeinschaften in Deutschland nach den Bomben von Madrid zu Demonstrationen aufrufen müssen - um zu zeigen, dass man sich vom Terror distanziere.

Auch nach den Anschlägen von New York und Istanbul habe es keine Demonstrationen von Muslimen gegen diese Gräueltaten gegeben. Er habe sich schon gefragt, ob die Mehrheit der Muslime diese Taten wirklich verabscheut: "Wenn im Namen des Islams tausende Menschen ermordet werden, müssen friedliche gläubige Muslime dagegen aufstehen. Wir dürfen nicht zusehen, wie der Islam weltweit zu einer Selbstmordattentäter-Religion verkommt", erklärt Yilmaz nachdenklich.

Wenige Moschee-Gänger

Die Mehrheit der Muslime in Deutschland hat nichts mit einem fundamentalistischen Islam zu tun. Im Gegenteil: Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt es bundesweit zwar weit mehr als 50 islamische Organisationen und Kulturvereine, aber Mitglied in ihnen sind nur etwa 15 Prozent der Muslime. Eine Studie des Essener Zentrums für Türkeistudien belegt, dass 2,5 der hier lebenden 3,3 Millionen Muslime nur selten eine Moschee besuchen. Die Hälfte überhaupt nicht.

"Viele der hier lebenden Muslime werden mit pauschalen Urteilen konfrontiert und für etwas in die Pflicht genommen, mit dem sie nichts zu tun haben", meint der Sozialwissenschaftler und Milieuforscher Jürgen Holzmann. Auf Vorverurteilungen reagierten einige wenige Muslime mit einem noch größeren Engagement im christlich-islamischen Dialog, doch die Mehrzahl gehe in Deckung und versuche einfach nicht aufzufallen, so schildert Holzmann seine Beobachtungen.

Nebeneinander statt Gegeneinander

Auch die Politologin Belgin Aksel, die sich seit Jahren ehrenamtlich für den christlich-islamischen Dialog engagiert, sieht das Problem der Abschottung und fordert Muslime auf sich in das Alltagsleben einzubringen: "Auf allen Ebenen, auch in der Kommunalpolitik." Zugleich appelliert sie an die deutschen Politiker, mit den muslimischen Dachorganisationen verstärkt zusammenzuarbeiten und eine Integrationspolitik zu entwickeln, die den Namen verdient.

Viele Muslime seien zum Dialog mit der deutschen Gesellschaft bereit. Doch die Sicherheitsdebatte nach den Anschlägen in Madrid mache nun Schritte hin zu mehr Integration schwieriger. Zur Verunsicherung trägt nach Meinung von Belgin Aksel auch die Diskussion um ein Kopftuchverbot an den staatlichen Schulen bei.

Das Kopftuch sei für die Mehrheit der moslemischen Frauen Teil ihrer Religion. Doch in der deutschen Öffentlichkeit werde es überwiegend als politisches Symbol des radikalen Islamismus missverstanden. Der Weg zu einer entspannten Sicht des Islam scheint noch lang zu sein.

Süleyman Artiisik, © Fluter.de 2004