Auf der Suche nach dem dritten Weg

Ob Tunesien und Ägypten einer demokratischen Zukunft entgegensteuern, hängt von ihrer wirtschaftlichen Entwicklung ab. Privatisierungen, wie IWF und Weltbank sie wollen, sind allerdings Gift für Tunesien und Ägypten, meint Akram Belkaid in seinem Kommentar.

Tunesien und Ägypten stehen vor immensen wirtschaftlichen Herausforderungen. Laut ersten Schätzungen der tunesischen Zentralbank und des ägyptischen Wirtschaftsministeriums benötigen die beiden Länder in den nächsten fünf Jahren zwischen 20 und 30 Milliarden US-Dollar, wenn sie den allgemeinen Lebensstandard heben und unterentwickelte Regionen erschließen möchten.

Die USA und die EU haben bereits klargestellt, dass ihre Kassen leer sind und sie sich angesichts der Schuldenkrise keine Extravaganzen leisten werden. Im Mai diesen Jahres, auf dem G-8-Treffen in Deauville, hatten die reichsten Nationen der Welt Tunesien und Ägypten noch 20 Milliarden Dollar über einen Zeitraum von zwei Jahren versprochen, bestehend aus Krediten, die noch vor den Revolutionen freigegeben worden waren.

Die arabischen Länder werden es auch nicht eilig haben, ihren Nachbarn bei der Demokratisierung zu helfen. Und das EU-Vorhaben einer Mittelmeer-Bank – die seit 1995 in Planung war – wurde im Mai endgültig aufgegeben. Anders als das östliche Europa nach dem Fall der Mauer, werden die Mittelmeerländer über keine eigene Bank für Wiederaufbau und Entwicklung verfügen.

Stattdessen werden gemeinsam mit dem IWF und der Weltbank die European Investment Bank (EIB) – sie bietet bis 2013 Kredite von sechs Milliarden US-Dollar an – und die European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) die Hauptgläubiger sein.

Gestorbene Hoffnungen

Streik von Textilarbeitern in Mahalla al Kubra; Foto: dpa
Keimzelle der ägyptischen Revolution: Am 6. und 7. April 2008 streikten Tausende Textilarbeiter in der Industriestadt Mahalla al Kubra gegen steigende Lebensmittelpreise und für höhere Löhne.

​​In Tunis und Kairo hatte man zeitweise auf einen Marschallplan gehofft, ähnlich dem der USA für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Laut Schätzungen würde ein solcher in etwa so viel kosten wie der Irakkrieg in zwei Monaten oder drei Prozent der Kosten für die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1991. Heute rechnet niemand mehr mit Hilfe von außen.

Entsprechend ermutigt der IWF und die Weltbank Tunesien und Ägypten, ihre Märkte weiter zu liberalisieren und bei multinationalen Konzernen um Kredite nachzusuchen. Internationale Gläubiger und westliche Großkonzerne haben längst ihren Fuß in der Tür, doch sie wollen größere Bewegungsfreiheit. In ihren Augen sind die Public-private-Partnerships (PPPs) die jetzt benötigte Wunderwaffe.

PPP bedeutet, dass für einen festgelegten Zeitraum Firmen anstelle des Staates die öffentliche Versorgung mit Wasser, Krankenhäusern und Ähnlichem zur Verfügung stellen und daran verdienen. Auch wenn diese Arrangements zeitlich begrenzt sind, handelt es sich doch um eine Privatisierung des öffentlichen Sektors.

Kein Königsweg in Sicht

Für die Geschäftswelt und die Internationalen Institutionen sind PPPs ein quasi naturgegebenes Instrument, um die infrastrukturellen Maßnahmen in den Mittelmeerländern zu finanzieren. Dabei wird unterschlagen, dass dieses Finanzierungsmodell nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren kann. Erstens benötigen PPPs niedrige Zinsen und gesunde Banken. Tunesien und Ägypten verfügen weder über das eine noch das andere. Viele Banken haben dubiose Schulden und insgesamt fehlt es an Expertise für komplexe Finanzgeschäfte.

Samir Amni; Foto: © Ibn Rushd.org
Samir Amin: "Die Muslimbrüder unterstützen eine Marktwirtschaft, die total von äußeren Akteuren abhängig ist."

​​Zweitens muss die öffentliche Hand in der Lage sein, die eigenen Interessen und die der Steuerzahler durchzusetzen und die privatwirtschaftlichen Partner entsprechend zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen bringen können. Anders gesagt: Der Staat und seine lokalen Institutionen müssen über die benötigte Kompetenz verfügen, um die jeweiligen PPPs evaluieren und umsetzen zu können. PPPs brauchen keinen starken Staat, aber einen kompetenten, einen der solide Rahmenbedingungen auszuhandeln vermag. Werden die zukünftigen Verwaltungen in Ägypten und Tunesien dazu in der Lage sein?

Wenn es einen Mittelweg gibt zwischen überstürzter Liberalisierung und der Rückkehr zur Planwirtschaft, dann wird er sicher nicht von den religiösen Parteien entdeckt werden. Der ägyptische Ökonom Samir Amin hat es anhand der Muslimbrüder gezeigt: Der Islamismus macht sich gerne mit liberalen, merkantilistischen Theorien gemein und schenkt – anders als die Öffentlichkeit denkt – sozialen Fragen nur flüchtige Aufmerksamkeit:

"Die Muslimbrüder unterstützen eine Marktwirtschaft, die total von äußeren Akteuren abhängig ist. Insbesondere in der letzten Dekade haben sie sich gegen die Arbeitskämpfe in Fabriken und der Bauern ausgesprochen, die ihr Land zurückgewinnen wollten. Die Muslimbrüder sind nur moderat in dem Sinn, in dem sie sich immer geweigert haben, ein wirtschaftliches oder soziales Programm zu formulieren. Zudem akzeptieren sie die US-Hegemonie in der Region. Das macht sie zu nützlichen Verbündeten von Washington."

Islamismus und Neoliberalismus

Es wird viel geredet über die Wohltätigkeitsarbeit islamistischer Organisationen. Dabei wird gerne übersehen, dass die Islamisten sich weigern, eine Politik zu entwickeln oder auch nur zu bedenken, die Armut und Ungleichheit tatsächlich abbaut.

Anhänger der Muslimbruderschaft in Kairo; Foto: AP
Keine Berührungsängste mit neoliberalen Konzepten: Die Muslimbrüder wenden sich entschieden gegen eine reine Umverteilungspolitik, die auf Steuern setzt, schreibt Akram Belkaid.

​​Der Islamismus favorisiert stattdessen eine neoliberale Politik und wendet sich gegen eine Umverteilungspolitik, die auf Steuern setzt. Letztere erachten sie als pietätlos, mit Ausnahme des Zakats, also der Zwangsabgabe für wohltätige Zwecke, die eine der fünf Säulen des Islam darstellt.

Die Islamisten haben sich nie darum bemüht, die weltweite Bewegung für Gerechtigkeit zu verstehen; sie betrachten sie schlicht als ein Ausdruck eines neuen Kommunismus. Mit Fug und Recht kann man unterstellen, dass starke islamistische Parteien, sofern sie die Demokratie nicht angreifen, auch keine großen ökonomischen Revolutionen bewirken werden.

Tunesien und Ägypten stehen vor der Aufgabe, einen dritten Weg für sich zu finden – den meisten Ländern des ehemaligen Ostblocks ist das nicht gelungen. Volksrevolutionen müssen nicht zwangsläufig die Basis bilden für einen übermächtigen Kapitalismus, der die soziale Transformation der ägyptischen und tunesischen Gesellschaften unterläuft.

Ob man diese Veränderung absichern kann, wird davon abhängen, ob es gelingt, eine neue Ökonomie aufzubauen, die sich vor allem darum kümmert, Ungleichheiten zu reduzieren.

© Tageszeitung 2011

Akram Belkaid ist freier Journalist und publiziert das Pariser Magazin "Être Arab aujourdhui". Das Essay erschien zunächst bei "Agence Global" unter dem Titel "Privatising the Arab Awakening".

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de