Bringschuld der Mehrheitsgesellschaft

Unter dem Hashtag #MeTwo teilen Tausende Deutsche mit Migrationshintergrund ihre Rassismuserfahrungen. Es reicht nicht, wenn sich die Minderheit integriert, auch die Mehrheit muss sich hier bewegen, meint Armin Langer.

Von Armin Langer

Der Hashtag #MeTwo wurde vom Aktivisten Ali Can ins Leben gerufen und sammelt Geschichten tausender Deutscher mit Migrationshintergund - Erfahrungen mit Alltagsrassismus aus Schule, Beruf und von der Straße. Diesen Erfahrungen ist eines gemein: Sie alle zeigen auf, dass unabhängig davon, wie integriert Minderheiten hierzulande sind, sie immer noch seitens vieler Deutscher ohne Migrationshintergrund abgelehnt werden.

Diese empfundene fehlende Anerkennung wird auch von der jüngsten Ipsos-Studie bestätigt: Nur 46 Prozent der befragten Deutschen waren der Meinung, dass Juden Deutsche sein können - und lediglich 26 Prozent der Befragten dachten, dass eine Person gleichzeitig muslimisch und deutsch sein kann.

Auf Einsteins Spuren

Auslöser der #MeTwo-Kampagne war Mesut Özils Rückzug aus der Nationalmannschaft und seine viel zitierte Feststellung "Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Immigrant, wenn wir verlieren." Özil sprach vielen Angehörigen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Minderheiten in Deutschland aus der Seele. Diese Empfindung hätten wahrscheinlich auch Minderheiten vor unserer Generation geteilt.

Bereits vor knapp einem Jahrhundert, im Jahr 1922, kam ein anderer berühmter Deutscher auf die gleiche Schlussfolgerung wie Özil: Albert Einstein. "Wenn ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalte, werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Deutschen sagen, ich sei Jude." Der Physiker drückte in dieser Ansprache vor der französischen Philosophischen Gesellschaft an der Pariser Sorbonne das ambivalente Gefühl aus, dass viele Juden in Deutschland zur Zeit der Jahrhundertwende befiel. Sie hatten in den Jahrzehnten davor einen radikalen Integrationsprozess durchlaufen - akzeptiert wurden sie dennoch auch weiterhin nicht.

Mit der Aufklärung und den darauffolgenden Emanzipationsgesetzen nahm die Isolation der Juden, die ihr Leben in den deutschsprachigen Ländern mehr als ein Jahrtausend lang prägte, langsam ab. Gleichzeitig wurde den Juden mit dem Erwerb der Bürgerrechte die Integration als Bedingung zur sozialen Teilhabe gestellt. "Es wird nichts daraus kommen; so lange die Juden Juden sind, sich beschneiden lassen, werden sie nie in der bürgerlichen Gesellschaft mehr nützlich als schädlich werden", sagte bereits Immanuel Kant. Die Intellektuellen des 19. Jahrhunderts - wie Humboldt, Herder und Hegel - unterstützten die Gleichberechtigung der Juden. Dennoch waren auch sie der Meinung, Juden müssten sich radikal ändern, sogar ihr Judentum aufgeben, damit ihre Integration gelingen könne.

Der Berliner Publizist Armin Langer. Foto: K. Harbi
Armin Langer, Jahrgang 1990, studierte Philosophie und jüdische Theologie. Er ist Autor des Buches "Ein Jude in Neukölln - Mein Weg zum Miteinander der Religionen" und Herausgeber des Sammelbandes "Fremdgemacht & Reorientiert".

Integration ist nicht gleich Selbstverleugnung

Unter dem aufklärerischen Integrationsdruck entschieden sich viele Juden für die partielle oder komplette Aufgabe der eigenen Tradition. Sie setzten sich mit Kant und Lessing auseinander, begeisterten sich für die Dichtungen von Goethe und Schiller, hörten Wagners Musik.

Die jiddische Sprache, das Talmud-Studium und die Klezmer-Musik galten plötzlich als verpönt. In der Hoffnung auf die Gleichbehandlung führten liberale Juden religiöse Reformen nach protestantischen Vorgaben ein und verzichteten auf die traditionelle Observanz der Speisevorschriften, der Beschneidung und der Sabbat-Gesetze. Sie führten die Orgel in den Synagogen ein; Rabbiner begannen, das Wort Gottes nach Prinzipien der Schleiermacherschen Homiletik, einer evangelischen Predigtlehre, zu verkünden. Andere gingen noch einen Schritt weiter und konvertierten zum Christentum.

Religionswechsel unter Juden wurde im 19. Jahrhundert in Europa gängig: Die Mehrheit in der jüdischen Mittelschicht war zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Berlin zum Christentum übergetreten.

Obwohl die Mehrheit der Juden ihr Jüdisch-Sein in den Hintergrund drängte oder sogar völlig aufgab, wurden sie weiterhin als "die Anderen" angesehen. Heinrich Heine war einer der jüdischen Konvertiten zum Christentum - aber selbst nach seiner Konversion wurde er noch Ziel antisemitischer Polemik. Aus dieser Enttäuschung heraus, die Juden gegenüber dem Versprechen der Emanzipation fühlten, entstand am Ende des 19. Jahrhunderts der politische Zionismus.

Sein Hauptbegründer, der österreich-ungarische Publizist Theodor Herzl, war anfänglich Befürworter einer totalen Anpassung und sah im Massenübertritt jüdischer Jugendlicher zum christlichen Glauben die Lösung. Seinen Sohn ließ er nicht beschneiden, sie feierten zu Hause Weihnachten statt Chanukka. Erst im Jahr 1895, nach der antisemitischen Hetztirade gegen den integrierten, jüdischstämmigen französischen Offizier Alfred Dreyfus, musste Herzl einsehen, dass auch die völlige Anpassung von Minderheiten gegen den Hass nicht ausreichend ist. Daraus schlussfolgerte er, dass Juden in Europa wegen des weit verbreiteten Antisemitismus keine Zukunft hätten und wurde zum Fürsprecher des politischen Zionismus.

Integration: nicht nur eine Bringschuld

Ein Jahrhundert nach Herzl stellt sich noch immer die gleiche Frage: Wer gehört zu Deutschland? Die Erfahrungen aus dem 19. Jahrhundert und von heute sind natürlich nicht identisch - die Ähnlichkeiten sind aber auffällig. Antisemitismus ist nicht verschwunden, davon zeugen auch viele #MeTwo-Beiträge von jüdischen Usern.

Auch Muslime, People of Color, Schwarze, Sinti und Roma sowie Angehörige anderer Minderheiten kommen zu Wort und zeigen mit der derzeitigen Kampagne, dass es nicht reicht, wenn sich nur die Minderheit integriert - auch die Mehrheit muss sich integrieren. Integration hat immer zwei Seiten.

Armin Langer

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