Ein Staatsislam wäre grundgesetzwidrig

Die Muslime müssen sich organisieren, wenn sie einen Platz im System des Religionsverfassungsrechts anstreben. Der neutrale Staat braucht für Verhandlungen über Glaubenssachen ein Gegenüber. Ein Kommentar des Kirchenrechtlers Hans Michael Heinig

Symbolbild Islam in Deutschland und Grundgesetz; Foto: dpa/DW
Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates in religiösen Streitigkeiten stellt eine zivilisatorische Errungenschaft ersten Ranges in Europa dar, schreibt Kirchenrechtler Hans Michael Heinig.

​​Wer schützt die schweigende Mehrheit der Muslime in Deutschland vor den Traditionalisten in den islamischen Verbänden, fragte Necla Kelek am 16. März im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Ihre Antwort: Der Bundesinnenminister, der alle Unparteilichkeit des Staates in religiösen Fragen fahrenlassen, den organisierten Islam kujonieren und die Deutsche Islamkonferenz ohne Verbandsvertreter fortführen soll. Man kann nur hoffen, dass der Minister nicht auf seine jüngst bestellte Beraterin hören wird. Denn mit religiöser Parteilichkeit lassen sich die Grundlagen unserer offenen und freiheitlichen Gesellschaftsordnung schwerlich verteidigen.

Es bedurfte eines furchtbaren Blutzolls im Gefolge des konfessionellen Bürgerkrieges, um die religiöse Wahrheitsfrage in der Politik zu suspendieren. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates in religiösen Streitigkeiten stellt eine zivilisatorische Errungenschaft ersten Ranges in Europa dar. Sie findet auch in unserer Verfassung Niederschlag.

Keine Staatskirche, kein Staatsislam

Der Staat ist mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts "Heimstatt aller Bürger". Das Grundgesetz verbietet die Einrichtung einer Staatskirche, ergo auch eines Staatsislams.

Für die kemalistische Lösung eines staatlich gelenkten Islams lässt unsere Verfassungsordnung keinen Raum. Ebenso wenig darf der Staat im Widerstreit zwischen konservativen und progressiven Strömungen einer Religion Partei ergreifen. Wer den Bundesinnenminister aufruft, die Moderatorenrolle zu verlassen, fordert ihn zum Bruch der Verfassung auf.

Teilnehmer an der dritten Islamkonferenz im März 2008; Foto: AP
Islamkonferenz vor dem Aus? Muslimische Einzelpersönlichkeiten können die Verbände nicht ersetzen. Denn Intellektuelle und Künstler sind von niemandem legitimiert und müssen sich gegenüber niemandem rechtfertigen.

​​So läuft eine vom Furor gegen den Islamismus befeuerte Islamkritik am Ende Gefahr, dasselbe zu tun, was sie den islamischen Verbänden vorwirft, nämlich den Staat zu Zwecken des religionspolitischen Machtkampfes zu instrumentalisieren.

Der Staat schützt Muslime natürlich vor den Erscheinungsformen eines gewalttätigen, unsere Rechtsordnung verletzenden Islam. So wie Nichtmuslime auch. Doch vor einem "falschen" Islam können sich die Muslime in Deutschland nur selbst schützen.

Wer sich von "Hardlinern" in den Verbänden nicht richtig vertreten fühlt, muss sich organisieren. Das sind die Spielregeln in einer freiheitlichen Demokratie. Der Zusammenschluss von Bürgern führt zu aggregierter Macht und zu höherem politischen Einfluss. Das gilt für den ADAC und DGB ebenso wie für religiöse Vereinigungen.

Dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat aber bleibt nichts anderes übrig, als mit den islamischen Verbänden zusammenzuarbeiten, die die Gesellschaft hervorbringt. Sich einen ihm besonders genehmen Partner schaffen darf er nicht.

Verbände vertreten Mitglieder, Intellektuelle vertreten niemanden

Liest man Necla Kelek, kann man auf den Gedanken kommen, sie halte jeden Zusammenschluss von Muslimen für eine Verschwörung zur Entmündigung des einzelnen Gläubigen. Doch ohne zur Zusammenarbeit bereite und fähige Religionsgemeinschaften darf der Staat weder islamischen Religionsunterricht erteilen, noch Imame an staatlichen Hochschulen ausbilden, noch Militär- und Gefängnisseelsorge organisieren. Religionsgemeinschaften vereinigen Mitglieder.

Mitgliedschaft bringt Zugehörigkeit zum Ausdruck. Daran knüpft der auf Neutralität und Religionsfreiheit verpflichtete Staat an, wenn er Räume öffentlicher Religion schafft und Religionen als Kulturträger fördert.

Necla Kelek; Foto: dpa
Liest man Necla Kelek, kann man auf den Gedanken kommen, sie halte jeden Zusammenschluss von Muslimen für eine Verschwörung zur Entmündigung des einzelnen Gläubigen, meint Heinig.

​​An den bekannten staatskirchenrechtlichen Formen der Öffentlichkeit und Förderung von Religion hat das Gemeinwesen ein virulentes Interesse, weil der Staat so die besten Seiten der Sozialform Religion stimulieren und destruktiven Tendenzen entgegenwirken kann, ohne seine Neutralität in Sachen der Religion zu verlieren.

Solange jedoch die überwiegende Mehrheit der religiös interessierten Muslime in Deutschland darauf verzichtet, ihr Grundrecht auf religiöse Vereinigungsfreiheit wahrzunehmen, wird die deutsche Gesellschaft mit den Konsequenzen dieser Form von Integrationsverweigerung leben müssen.

Den bestehenden Verbänden wird man sie kaum vorwerfen können. Sie vertreten ihre Mitglieder. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie sind damit sicherlich nicht repräsentativ für das gesamte islamische Leben in Deutschland.

Doch ohne Mitwirkung der bisher bestehenden Verbände ist die Deutsche Islamkonferenz zum Scheitern verurteilt. Muslimische Einzelpersönlichkeiten können die Verbände nicht ersetzen. Denn Intellektuelle und Künstler sind von niemandem legitimiert und müssen sich gegenüber niemandem rechtfertigen.

Die Islamkonferenz am Scheideweg

Mit der Aufnahme entsprechender Persönlichkeiten in die Deutsche Islamkonferenz wollte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble darauf reagieren, dass die bestehenden Verbände die Vielfalt islamischen Lebens in Deutschland nur unzureichend widerspiegeln.

Für ein Konsultativgremium ohne exekutive Entscheidungsgewalt war diese Lösung nachvollziehbar, zumindest hinnehmbar, wiewohl sie den politischen Druck auf die Mehrheit der Muslime, sich den verfassungsrechtlichen Anforderungen gemäß zu organisieren, ermäßigt. Doch nun droht sich das Modell der Islamkonferenz zu verselbständigen.

Erst jüngst riet der Wissenschaftsrat, auf dieser Grundlage auch Lehrstühle für islamische Theologie an staatlichen Hochschulen einzurichten. Vernünftige religionsverfassungsrechtliche Verhältnisse lassen sich auf dieser Basis kaum schaffen. Denn das wäre ein Sonderrecht, das mit dem verfassungsrechtlichen Versprechen auf Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen kaum zu vereinbaren wäre.

Die Deutsche Islamkonferenz steht an einem Scheideweg. Ihre Einrichtung führte zur symbolischen Integration des Islams in das politische System. Das bleierne Schweigen zwischen Staat und organisiertem Islam unter der rot-grünen Bundesregierung fand ein Ende.

Schäuble ging sogar so weit, bewusst auch die Schmuddelkinder des Verbände-Islam einzuladen. Damit verband er die Hoffnung, dass öffentliche Anerkennung den verändert, dem die Aufmerksamkeit zuteil wird.

Die Solidarität der Verbände ist eine Erwartung des Staates

Das war zu Teilen wohl leider eine trügerische Hoffnung. Denn gegenwärtig sehen sich die Vertreter eines Verbandes, der IGMG, mit strafrechtlichen Vorwürfen konfrontiert, die über den bloßen Verdacht des politischen Extremismus hinausgehen.

Darauf musste der jetzt amtierende Innenminister bei der Wiederauflage der Islamkonferenz reagieren. Er suspendierte die Mitgliedschaft des Islamrats, der von der IGMG dominiert wird. Nun zögern die anderen Verbände, ob sie an der Islamkonferenz weiter mitwirken sollen.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble; Foto: AP
Die Deutsche Islamkonferenz wurde im September 2006 vom früheren Bundesinnenminister Schäuble begründet, um die gesellschaftliche und politische Integration der in Deutschland lebenden Muslime zu verbessern.

​​Das ist insoweit verständlich, als sich die Verbände untereinander in einem Koordinierungsrat verbunden haben, so dass sich DITIB, ZMD und VIKZ zur Rücksichtnahme verpflichtet fühlen. Diese Vernetzung wurde gerade von Seiten der Politik immer wieder gefordert. Deshalb wäre es wohl klüger gewesen, nur Einzelpersonen zu unerwünschten Personen erklären und nicht gleich einen ganzen Verband auszuladen.

Nach den Wahlen und dem dadurch bedingten Wechsel in der Hausleitung brauchte das Innenministerium einige Zeit, der Öffentlichkeit eine Konzeption für die zweite Phase der Islamkonferenz vorzulegen. Das Zögern irritierte angesichts des bisherigen Erfolges der Konferenz, zumal die Integration der in Deutschland lebenden Muslime eine Schlüsselfrage unserer Gesellschaft ist.

Nach dem Willen des Bundesinnenministers soll es zukünftig in der Islamkonferenz unter anderem darum gehen, in Fragen des Religionsunterrichts und der Imamausbildung zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Allein: dafür fehlen dem Bund die Kompetenzen. Schul- und Hochschulpolitik sind Ländersache. Die nun vorgesehene stärkere Beteiligung der Länder ist deshalb dringend geboten.

Diktate des Pragmatischen

Doch Schäubles Islamkonferenz suchte ihren Sinn gerade auch darin, dass sie dem kleinteiligen Aufbau lokaler Bündnisse und den Initiativen der Ländern zu staatskirchenrechtlichen Einzelfragen eine gesamtgesellschaftliche Plattform zur Seite stellte, auf der grundlegende Fragen zum Thema gestellt werden konnten.

Die Islamkonferenz erprobte Formen gesellschaftlicher Selbstverständigung über das Verhältnis von Religion und Politik, von kultureller Freiheit und gesellschaftlichen Erwartungen, von gelungener Integration und unerwünschter Schattenexistenz, von religionseigenen Leistungen zur Gefahrenabwehr und dem produktiven Beitrag der Religionen zum Gemeinwohl.

Darin liegt ein Eigenwert, der nicht geringzuschätzen ist. Politik drängt heutzutage stets ins Konkrete. Sie unterliegt dem Diktat des Pragmatischen. Doch manchmal ist gerade die Erörterung des Allgemeinen das Konkrete und das bloße Reden pragmatisch.

Hans Michael Heinig

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010

Hans Michael Heinig lehrt Öffentliches Recht in Göttingen und ist Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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