Tote leben länger

Das türkische Schattentheater hat eine 500 Jahre alte Tradition. Benannt nach ihrer Hauptfigur, Karagöz, scheint es im Internetzeitalter nicht mehr zeitgemäß – doch die Figuren werden unter anderem von der zeitgenössischen Literatur aufgegriffen. Von Leyla v. Mende

Das türkische Schattentheater hat eine 500 Jahre alte Tradition. Benannt nach ihrer Hauptfigur, Karagöz, scheint es im Internetzeitalter nicht mehr zeitgemäß – doch die Figuren werden unter anderem von der zeitgenössischen Literatur aufgegriffen. Leyla v. Mende wirft einen Blick auf die wechselvolle Geschichte des türkischen Schattenspiels.

Türkisches Schattentheater; Quelle: &copy www.bursakultur.com
Nach der Gründung der Republik Türkei wurde das Schattentheater zeitweilig zum staatlichen Erziehungsmedium umfunktioniert.

​​ Das Schattenspiel wurde im 16. Jahrhundert des Osmanischen Reichs entwickelt. Die beiden Hauptfiguren, Karagöz und Hacivat, dienten zusammen mit einem bunt gemischten Schattenfiguren-Personal Herrscher und Volk gleichermaßen als willkommene Unterhaltung.

Die Schattenbühne diente dazu, das tägliche Miteinander im osmanischen Vielvölkerstaat mit seinen Konflikten, aber auch in seiner Vielfältigkeit widerzuspiegeln. Auf der Bühne war es möglich, heikle Themen der gesellschaftlichen Realität auf fiktiver Ebene zu behandeln, die diesseits der Schattenwelt mit Tabus belegt waren.

Illusorisches Gefühl von Freiheit und Macht

Obszönitäten und politisch-kritische Inhalte waren fester Bestandteil der Aufführungen. So diente das Schattenspiel also auch als Ventil für soziale Spannungen.

Hacivat und Karagöz; Foto: &copy www.musethno.uzh.ch
Hacivat und Karagöz sind die Hauptfiguren des türkischen Schattenspieltheaters. Karagöz ist Publikumsliebling. Er stellt einen Mann aus dem Volk dar, der in verschiedene Rollen schlüpft und mit seinen derben Scherzen das Publikum unterhält.

​​ In den Aufführungen wurden die gesellschaftlichen Machtbeziehungen auf den Kopf gestellt, am Ende der Aufführung waren sie wieder hergestellt. Doch für eine kurze Zeit hatte das Publikum das Gefühl, selbst mächtig sein zu können und in einer weitgehend freien Gesellschaft zu leben.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Lustspiele jedoch zunehmend verschriftlicht: Bis dahin hatte man auf der Bühne größtenteils improvisiert.

Doch die Tatsache, dass die Texte für die kritischen Lustspiele nun in schriftlicher Form vorlagen, führte dazu, dass sie auch von den Behörden genauer unter die Lupe genommen werden konnten. Plötzlich war Karagöz seiner spitzen Zunge beraubt. Kritik an der herrschenden Klasse wurde Schritt für Schritt ausgedünnt.

Schattentheater als Propagandamittel

Buchcover Aziz Nesin
Der renommierte türkische Schriftsteller Aziz Nesin benutzt die Figur des Karagöz als Vorlage für seine politisch-satirischen Dramen.

​​ Mit Gründung der Republik Türkei fiel das Schattenspiel vollständig in den Machtbereich des Staates und der herrschenden Eliten. Die Schattenbühne wurde sogar zum staatlichen Erziehungsmedium umfunktioniert.

Die Regierung hoffte, das Schattenspiel als Mittel des gesellschaftlichen Umerziehungsprozesses nutzen zu können. Karagöz sollte zum Propagandamittel für die türkische Modernisierung werden, die Reformen in Sprache, Kleidung und Erziehung anstrebten.

Die Bühnen gingen oftmals konform mit den vorgegebenen politischen Leitlinien. Nichts war mehr übrig vom einst so derben Karagöz der Straße, fortan verkörperte die Figur nicht mehr den subversiven Spitzbuben, sondern vielmehr das Sinnbild eine tugendhaften, zivilisierten, modernen Türken.

Karagöz im Internetzeitalter

Emine Sevgi Özdamar; Foto: &copy © Helga Kneidl, Quelle: www.bosch-stiftung.de
Im Auftrag des Bochumer Schauspielhauses entstand Emine Sevgi Özdamars erstes Theaterstück "Karagöz in Alemania". Die deutsch-türkische Schuspielerin und Autorin lebt heute in Berlin.

​​ Wahrscheinlich stärker als die staatliche Bevormundung des türkischen Schattentheaters hat wohl die Popularität neuer Medien die Beliebtheit und die Verbreitung des türkischen Schattenspiels verringert. Heutzutage wird das Schattenspiel häufig nur noch als eine Kinderbelustigung oder Touristenattraktion wahrgenommen.

Doch diese Tradition ist alles andere als ausgestorben, in unterschiedlichen Kontexten wird immer wieder neu belebt.

So hat der türkische Schriftsteller Aziz Nesin beispielsweise die Figur Karagöz als Vorlage für seine politisch-satirischen Dramen genommen, in denen er den spitzzüngigen Karagöz der osmanischen Zeit wieder aufleben lässt.

"Karagöz in Alamania"

In den 1980er Jahren tauchte Karagöz auch in Deutschland auf. Die Autorin Emine Sevgi Özdamar betitelte eine ihrer sozialkritischen Komödien mit "Karagöz in Alamania". Es ist das erste deutschsprachige Bühnenwerk einer deutsch-türkischen Autorin, das eine Aufführung an einem bedeutenden deutschen Theater erfuhr. Diese fand 1986 am Schauspiel Frankfurt statt.

Das Stück handelt von einem türkischen Bauern namens Karagöz, der sich auf den Weg nach Deutschland macht. Auch das Berliner "Tiyatrom" sowie andere deutsch-türkische Theaterprojekte integrierten in ihre Aufführungen Elemente und Figuren des türkischen Schattenspiels.

Daneben versucht man, Karagöz auch im pädagogischen Bereich einzusetzen. DVDs zeigen türkische Schattenspielstücke für Kinder mit Migrationshintergrund.

Und seit den 1980er Jahren erscheinen Bücher, die Möglichkeiten für eine Verwendung von Karagöz im Schulunterricht aufzeigen – als Anregung für interkulturelle Arbeit. Der Anspruch, Karagöz in das aktuelle Zeitgeschehen zu integrieren, tritt immer deutlicher hervor.

Fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses

Das Schattenspiel wird in der Türkei als wichtiger Bestandteil kultureller Traditionen empfunden. Karagöz prägte Redewendungen und Sprichwörter. In Bursa wird die vermeintlich Grabstätte von Karagöz und Hacivats in Ehren gehalten.

Der 2006 in den Kinos gezeigte türkische Blockbuster "Warum wurden Karagöz und Hacivat getötet?" (deutscher Titel: "Hinrichtung der Schatten"), der eine der Ursprungslegenden des türkischen Schattenspiels als Komödie auf der Leinwand zeigt, ist ebenfalls ein schönes Beispiel dafür, dass das türkische Schattenspiel nicht in Vergessenheit geraten ist.

Auch wenn sie niemals eine Schattenspielaufführung besucht haben: in der Türkei und unter türkischstämmigen Deutschen sind Karagöz und Hacivat allseits bekannt. Bis heute sind sie fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses.

Leyla v. Mende

© Qantara.de 2009

Leyla v. Mende ist Islamwissenschaftlerin am Zentrum Moderner Orient in Berlin.

Qantara.de

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