Einander zuhören für den Frieden

Yoav Peck ist Direktor des "Sulha Peace Project", einer Organisation, die im Nahostkonflikt auf neue Formen des Dialogs setzt und dabei menschliche Begegnungen zwischen Israelis und Palästinenser in den Mittelpunkt rückt. Mit Yoav Peck hat sich Marian Brehmer unterhalten.

Von Marian Brehmer

Welche Idee steckt hinter dem "Sulha Peace Project"?

Yoav Peck: Das arabische Wort "Sulha" beschreibt eine jahrhundertealte Tradition der Versöhnungsvereinbarung in der palästinensischen Gesellschaft. Es bedeutet auch "Versöhnung" auf Hebräisch. Wir bei "Sulha" glauben, dass Veränderung von oben und von unten geschehen muss. Oben sind die politischen Führer, die Presse und Demonstrationen. Unten geht es um Menschen zu Menschen. Das ist unsere Arbeit. Wir denken, dass jede Lösung für die Zukunft von Nahost auf Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern beruhen muss. Jedoch gibt es enormes Misstrauen auf beiden Seiten. Es ist unser Anliegen, durch Begegnungen auf persönlicher Ebene die Gräben zwischen den Menschen zu schließen. Wir wollen Vertrauen zwischen Menschen aufbauen, deren Vertrauen durch die Ereignisse im Nahen Osten erschüttert wurde.

Wie machen Sie das?

Peck: Wir vermeiden politische Diskussionen und ermutigen die Menschen dazu, auf persönlicher Ebene von ihrem Erleben des Konflikts zu erzählen. Alle sechs Wochen bringen wir bis zu 120 Palästinenser und Israelis zusammen, um informell Zeit miteinander zu verbringen, sich kennenzulernen und in "Zuhörkreisen" zu sitzen. Wir benutzen dazu gemeinsame Mahlzeiten, Gebet, Musik und Trommeln – was auch immer Menschen zueinander bringt. Die Leute kommen in diese Zuhörkreise mit ihren Eindrücken von all jenen Ereignissen, die ihnen in der Woche zuvor widerfahren sind, aber auch mit ihrem anhaltenden Pessimismus angesichts der verfahrenen Situation im Nahostkonflikt. Wir versuchen, diese Resignation zu durchbrechen, Hoffnung zu wecken und die Menschen zu ermutigen, sich für den Frieden einzusetzen.

Wie kann Zuhören ein Werkzeug der Veränderung vor dem Hintergrund der israelisch-palästinensischen Sackgasse sein?

Yoav Peck, Direktor des "Sulha Peace Project"; Foto: Yoav Peck
Yoav Peck: "Vor 'Sulha' habe ich für eine Friedensbewegung gearbeitet, die Massendemonstrationen organisiert. Dort gab es einige wenige Menschen, die für viele andere Menschen Entscheidungen getroffen haben. Bei 'Sulha' habe ich schließlich Menschen kennengelernt, die extrem sensibilisiert waren für den Prozess der Entscheidungsfindung und für die Art und Weise, wie wir in Meetings miteinander umgehen."

Peck: Das Problem ist, dass viele von uns einander nicht richtig zu hören. Meistens geht es bei dem, was wir "Zuhören" nämlich nennen, darum, sich selbst zu kontrollieren und argumentativ den Anderen zu überzeugen. Anstatt mich also in die Lage des Anderen zu versetzen und zu verstehen, was es bedeutet, Mahmud oder sonst wer zu sein, ist man viel mehr damit beschäftigt, wie man argumentativ am besten überzeugt. Doch so hören Krieger einander zu, Frieden kann damit jedoch nicht geschlossen werden. Zuhören ist das Herzstück unserer Arbeit. Durch tiefere Erfahrung des Zuhörens ist man ganz bei den Menschen, wenn sie sprechen. Ich mag dann zwar mit der Meinung des Anderen überhaupt nicht übereinstimmen, respektiere ihn jedoch genügend, um ihn wirklich ausreden zu lassen. Wenn Menschen einander zuhören, führt das zu Vertrautheit und Nähe zwischen ihnen. Es ist die Aufgabe der Organisatoren, einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen sich sicher genug fühlen, um ihre persönlichen Erfahrungen zu teilen.

Sind diese "Zuhörkreise" auch politischer Art?

Peck: Die politische Situation wird immer wieder in unseren Gesprächskreisen erwähnt, vor allem bei Ereignissen wie den aktuellen Tötungen an der Gaza-Grenze. Die Palästinenser leben seit 50 Jahren mit der Realität der Besatzung. Aber wir lenken unsere Teilnehmer weg vom Intellektualisieren des Konfliktes und der Diskussion um mögliche Lösungen der politischen Situation. Wir widmen die Zeit gänzlich der Verbindung von Mensch zu Mensch. Manchmal sind die palästinensischen Teilnehmer zunächst frustriert, dass wir nicht genügend über die politische Situation sprechen. Doch bald darauf verstehen sie, welches Anliegen wir haben. Natürlich hat jeder hat eine Geschichte, die er erzählen will, sofern er jemanden findet, der ihm dabei zuhört. Je älter ich werde, desto klarer wird mir, dass politische Diskussionen im besten Fall damit enden, dass sich eine Person als Gewinner, die andere als Verlierer fühlen darf. Kontroverse politische Diskussionen ändern nichts, sondern treiben die Menschen vielmehr auseinander und lassen sie verbittert zurück.

Wie erfahren die Menschen von diesem Projekt?

Peck: Hauptsächlich von Mund zu Mund. Jedes Mal bringen einige Leute ihre Freunde, Nachbarn oder Bekannte aus ihrem Umkreis mit, Menschen die noch nie mit einer solchen Form des Dialogs in Berührung gekommen sind. Wir verfügen bereits über einen festen Gesprächszirkel, doch unser Ziel ist es, möglichst viele Menschen zu erreichen, die unserer Arbeit gegenüber skeptisch eingestellt sind. Wenn wir sie dazu bewegen können, zu uns kommen, dann ist das für uns eine Gelegenheit, etwas in ihren Herzen und Köpfen zu verändern.

Und wie ist diese Art der Transformation möglich?

Peck: Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen. Als ich einmal im Krankenhaus lag, befand sich im Krankenbett neben mir ein Siedler namens Yossi. Meine automatische Reaktion war Ablehnung. Ich dachte, dass wir nichts miteinander gemeinsam hätten. Dann begann Yossi von seinem Leben zu erzählen, und es stellte sich heraus, dass er seine Eltern und Geschwister bei einem Terroranschlag verloren hatte. Er befand sich damals auf seinem Weg zur Armee. Dann erzählte ich ihm von mir selbst und über "Sulha". Zu meiner Verwunderung fragte er mich "Warum lädst Du mich nicht mal zu Eurem Treffen ein?" Tatsächlich kam er dann auch eines Tages. Wir baten daraufhin einen der Palästinenser, Ahmed, eine Weile mit ihm zu verbringen. Ahmed hatte mehrfach in israelischen Gefängnissen eingesessen und humpelte aufgrund der Wunden, die er bei seiner Verhaftung erlitten hatte.

Er war sehr misstrauisch gegenüber dem Siedler und auch Yossi war ihm gegenüber sehr ablehnend eingestellt. Doch auch er willigte in den Dialog ein. Und siehe da: Innerhalb von zehn Minuten waren sie tief ins Gespräch vertieft. Sie lehnten sogar unsere Einladung ab, an den anderen Aktivitäten teilzunehmen. Vielmehr unterhielten sie sich, lachten gemeinsam und tauschten Zigaretten aus. Am Ende des Abends baten wir die Palästinenser zurück in den Bus, da sie zu einer bestimmten Zeit wieder die Grenze überqueren mussten. Ahmed hatte Yossi umarmt und zu ihm gesagt: "Hör' zu, in einigen Monaten wirst Du Soldat sein und an der Straßensperre stehen, während ich auf der anderen Seite Steine auf dich werfe. Bitte pass' auf dich auf!" Es war so traurig zu sehen, dass beide sich in ihren Rollen eingeschlossen fühlten, ein zukünftiger Soldat und ein potenzieller Steinewerfer. Aber das Entscheidende war, dass zwischen ihnen eine Verbindung entstanden war.

Hat sich Ihre Sicht auf den israelisch-palästinensischen Konflikt verändert seit Sie vor sieben Jahren zu "Sulha" gestoßen sind?

Peck: Es gibt ein Zitat von Gandhi: "Es gibt keinen Weg zum Frieden, der Frieden selbst ist der Weg". Vor "Sulha" habe ich für eine Friedensbewegung gearbeitet, die Massendemonstrationen organisiert. Dort gab es einige wenige Menschen, die für viele andere Menschen Entscheidungen getroffen haben. Das war nicht wirklich demokratisch und es gab viele Hassbekundungen von Seiten der Linken. Man kann nicht für eine Friedensorganisation sein und gleichzeitig die Mitglieder der eigenen Organisation und den Menschen auf der Gegenseite quasi den Krieg erklären.

Bei "Sulha" habe ich schließlich Menschen kennengelernt, die extrem sensibilisiert waren für den Prozess der Entscheidungsfindung und für die Art und Weise, wie wir in Meetings miteinander umgehen. Das beinhaltet auch, es abzulehnen, selbst die gewaltvollsten Anti-Friedenskräfte zu dämonisieren. Unser Job ist es, geschickt genug zu sein, um den Menschen hinter all dem Hass und Ressentiments zu erreichen. Das ist harte Arbeit. Als Yossi, der Siedler, das Trauma teilte, seine Eltern an Terroristen zu verlieren, hörten die Palästinenser ihm mit Tränen in den Augen zu. Sie empfanden tiefe Scham das so etwas jemandem zustoßen konnte, selbst einem Siedler.

Wenn man die gegenwärtige Gewalteskalation in Gaza verfolgt, dann scheint es so, als ob es sehr lange dauern wird, die Situation zu verändern. Ist das nicht eine völlige Sisyphusarbeit?

Peck: Es geht uns vor allem darum, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Wir haben eine Methode entwickelt, die wir auch als "das freundliche Hinterfragen von Annahmen" bezeichnen. Wenn, wie so häufig, jemand behauptet: "Die Palästinenser wollen uns alle ins Meer schubsen", so taucht das immer wieder in einer Diskussion auf. Dann entgegnen wir ihnen vielleicht mit Fragen wie: "Glaubst Du, das trifft auf jeden Palästinenser zu?" Oder "Glaubst Du, dass jeder Palästinenser, inklusive jene, die bei unseren Treffen dabei sind, dich ins Meer schmeißen will?"

Nur wenn genügend Verbindungen zum Anderen bestehen, werden sie bereit sein, jene fehlerhaften Annahmen zu überdenken. Gewiss, es ist ein langer Weg. Doch vielleicht wird sich nach dem Treffen ein kleiner Riss in der bisherigen Gedankenwelt dieser Person auftun. Und vielleicht geht derjenige dann nach Hause und erzählt seinen Freunden, dass er einen Friedensaktivisten getroffen hat, der eigentlich ziemlich in Ordnung war und mit dem er gerne mehr Zeit verbringen würde. Eines der Dinge, die ich manchmal frage, ist: "Was wollen Sie für Ihre Kinder? Wollen Sie nur Ihre Kinder großziehen und in den nächsten Gaza-Krieg schicken? Oder gibt es eine Alternative?" Wenn man mit Menschen über ihre Kinder spricht, werden sie weich. Sie sind bereit, den Geschichten über deine eigenen Kindern zuzuhören, zu hören, wie beängstigend es ist, Eltern eines Kampfsoldaten zu sein.

Das Interview führte Marian Brehmer.

© Qantara.de 2018