Der ungebrochene Wunsch nach Veränderung

Die jüngsten Proteste in Beirut und in Bagdad gegen Korruption und Inkompetenz der politischen Eliten verdeutlichen, dass der gewaltlose Widerstand im Nahen Osten ungebrochen ist. Eine Analyse von James M. Dorsey

Von James M. Dorsey

Die Proteste in mehreren arabischen Ländern fokussieren zwar auf sozialen und wirtschaftlichen Forderungen, doch im Grunde verfolgen die Aktivisten – ähnlich wie bei den Volksaufständen vor vier Jahren, die den Sturz von vier autokratischen Regimes zur Folge hatten – soziale Gerechtigkeit und mehr politische Freiheiten. Durch die Massendemonstrationen wird, trotz gelegentlicher Konflikte mit den Sicherheitskräften, die Annahme in Frage gestellt, die brutalen Niederschlagungen und Militärinterventionen hätten die Bereitschaft der Bürger in der MENA-Region, für ihre Rechte einzutreten, beendet.

Viele Beobachter glauben, die Bürgerkriege in Libyen und Syrien, die saudische Militärintervention in Bahrain und im Jemen, der von den Golfstaaten unterstützte Militärputsch in Ägypten und der Aufstieg des "Islamischen Staates" im Irak und in Syrien bedeuteten den Todesstoß für eine demokratische Erneuerung im Nahen Osten und in Nordafrika gewesen. Sie argumentieren, der Kampf gegen den dschihadistischen Extremismus und die brutalen Niederschlagungen durch konterrevolutionäre Kräfte hätten jede Wahrscheinlichkeit neuerlicher Bürgerproteste im Keim erstickt.

Wie aber die libanesischen Proteste nun zeigen, wehren sich die Bürger erneut gegen die brutale Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die systemimmanente Korruption und den eklatanten Mangel an Transparenz und Verantwortlichkeit in der arabischen Welt.

Religionsübergreifende Demonstrationen

Die libanesischen Proteste gehen sogar noch weiter: Sie zeigen die sektiererischen Spaltungen auf, die die autokratischen Herrscher in ihren Ländern zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen erzeugt haben, um das Überleben ihrer Regimes zu sichern – oft auch auf Kosten nichtmuslimischer Minderheiten. Aber die Mitglieder der achtzehn verschiedenen libanesischen Religionsgruppen leiden alle gleichermaßen unter dem Gestank des nicht abgeholten Abfalls und den damit verbundenen Gesundheitsgefahren. Mutmaßliche Versuche militanter Schiiten, der führenden politischen Macht des Landes, die religionsübergreifende Natur der Proteste durch Gewalt zu unterminieren, sind bislang gescheitert.

Protesters in Beirut (photo: Deutsche Welle/Barraclough
Autocratic rulers have manufactured the sectarian divides between Sunni and Shia Muslims in their countries – often at the expense of non-Muslim minorities – to ensure the survival of their regimes

Religionsübergreifende Demonstrationen

Die libanesischen Proteste gehen sogar noch weiter: Sie zeigen die sektiererischen Spaltungen auf, die die autokratischen Herrscher in ihren Ländern zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen erzeugt haben, um das Überleben ihrer Regimes zu sichern – oft auch auf Kosten nichtmuslimischer Minderheiten. Aber die Mitglieder der achtzehn verschiedenen libanesischen Religionsgruppen leiden alle gleichermaßen unter dem Gestank des nicht abgeholten Abfalls und den damit verbundenen Gesundheitsgefahren. Mutmaßliche Versuche militanter Schiiten, der führenden politischen Macht des Landes, die religionsübergreifende Natur der Proteste durch Gewalt zu unterminieren, sind bislang gescheitert.

Auch im Irak sind hunderttausende sunnitische und schiitische Demonstranten jeden Freitag auf die Straßen von Bagdad sowie in anderen Städten wie Basra gegangen, um gegen die allgegenwärtige Korruption zu protestieren und eine Verbesserung der grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen zu fordern. Die irakischen Proteste wurden durch den Mord an dem jungen Demonstranten Muntather al-Halfi im letzten Juli durch Sicherheitskräfte in Basra befeuert. Die Behauptungen von Politikern, verantwortlich hierfür seien religiös bedingte Konflikte, beantworteten die Demonstranten mit Rufen wie "Das Sektierertum ist tot" oder "Hört auf, uns im Namen der Religion zu bestehlen!".

Das Land hat bedeutende Gebiete an den "Islamischen Staat" verloren, der den brutalsten Ausdruck sektiererischen Hasses darstellt. Eine zehn Jahre anhaltende spalterische Regierungspolitik hat den Irak gelähmt, seine Minderheiten brutalisiert und viele von ihnen zum Verlassen des Landes gezwungen.

Syrien und Libyen wurden von Bürgerkriegen zwischen rivalisierenden Milizen verschlungen: in Syrien zwischen den Alawiten und den Sunniten und in Libyen zwischen verschiedenen sunnitischen Milizen. Dies führte zum Aufstieg unterschiedlicher Al-Qaida-Ableger, der Al-Nusra-Front und dem "Islamischen Staat im Irak und in Syrien". Im Gegensatz zum Libanon und zum Irak gab es in Ägypten vor dem Militärputsch von General Abdel Fattah al-Sisi zwei Phasen öffentlicher Aufstände, nämlich 2011 und 2013.

Popular protest in Iraq (photo: Reuters)
in Iraq, hundreds of thousands of demonstrators, Sunni and Shia, have taken to the streets of Baghdad and southern cities like Basra every Friday to protest corruption and demand an improvement in basic public services

Angesichts der größtenteils homogenen muslimischen Gesellschaft mit einer koptischen Minderheit, die sich meist hinter das repressive Regime des ehemaligen Generals und neuen Präsidenten gestellt hat, wurden die politischen Proteste meist unterdrückt. Und trotzdem fanden laut "Democracy Index" zwischen Oktober letzten Jahres und Juni 2015 800 Demonstrationen militanter Fußballfans oder Studenten gegen die Regierung statt.

Die Politik der eisernen Hand

Noch bemerkenswerter ist, dass sich der Erzfeind der Fußballfans und Studenten, die gefürchtete und verabscheute Polizei, an den Protesten am Nil beteiligt. Die Sicherheitskräfte wurden aufgerufen, in einigen ägyptischen Regierungsbezirken Proteste von Polizeibeamten niederen Ranges zu unterdrücken, darunter auch in Kairo. Die Beamten hatten sich für bessere Arbeitsbedingungen und Bonuszahlungen eingesetzt.

Die Polizisten, die auf der untersten Stufe in der Hierarchie der 1,7 Millionen Mann starken ägyptischen Sicherheitskräfte stehen, wurden vom Innenministerium beschuldigt, die als vogelfrei erklärte Muslimbruderschaft zu unterstützen, deren demokratisch gewählter Präsident durch Al-Sisi seines Amtes enthoben worden war. Ihnen wurde vorgeworfen, die ägyptische Sicherheit gefährdet zu haben – zu einer Zeit, in der das Land sich gegen dschihadistische Aufstände auf dem Sinai wehrt.

Die Politiker im Libanon und im Irak haben auf die Massendemonstrationen in ihren Ländern bislang auf versöhnlichere Weise reagiert. Der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi versprach, die Korruption zu beseitigen und seine Regierung auf Kurs zu bringen. Im Libanon kam nach den Müllprotesten das Kabinett zusammen, um die Krise zu erörtern. Jedoch zeigte sich schon bald die Unzulänglichkeit der Parlamentarier. Statt konkrete und unmittelbare Schritte anzukündigen, um Beirut vom Müll zu befreien, leitete das Kabinett das Streitthema kurzerhand an ein Ministerialkomitee weiter.

Egyptian security forces (photo: picture-alliance/ABACAPRESS)
Egyptian security forces

Zwei Seiten einer Medaille

Die erneuten Demonstrationen mögen zwar nicht wie im Jahr 2011 den Sturz bestehenden Regimes einleiten, allerdings spiegeln sie den grundlegenden Wandel im Nahen Osten und in Nordafrika wider, wo unter der Oberfläche die Wut und Frustration über Korruption und inkompetente Regierungsführung brodelt. Die Proteste legen auch nahe, dass der weitgehend kurzlebige Erfolg der Aufstände von 2011 die Wünsche nach Veränderung und die Bereitschaft, dafür auf die Straße zu gehen, nicht beendet hat.

Friedliche Demonstrationen und extremistischer Dschihadismus sind zwei Seiten einer Medaille: Sie sind der Ausdruck einer tief sitzenden Unzufriedenheit der arabischen Völker, die nicht mehr bereit sind, sich der Willkür despotischer Regimes bedingungslos zu unterwerfen. Bewegungen wie der "Islamische Staat" können daher wohl nur dann wirklich besiegt werden, wenn man mit der gleichen Energie, mit der man Sicherheitsrazzien und militärische Unterdrückungsmaßnahmen ergreift, auch die politischen und sozialen Probleme in der Region angeht.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2015

James M. Dorsey ist Senior Fellow an der "S. Rajaratnam School of International Studies" der Nanyang Technological University in Singapur. Er ist zudem Co-Direktor des "Instituts für Fankultur" der Universität von Würzburg und Verfasser des Blogs The Turbulent World of Middle East Soccer sowie eines bald erscheinenden Buchs mit gleichnamigen Titel.

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff