Was ist syrisch am Syrienkrieg?

Amerikaner, Europäer, Russen, Türken, Iraner und Araber halten Konferenz um Konferenz ab, um den "Syrienkrieg" zu lösen. Tatsächlich hat der Konflikt eine Dimension angenommen, in der es längst nicht mehr um Syrien oder die Syrer geht – sondern um die Ideologien widerstreitender Mächte und ihre Allianzen, meint Hakim Khatib.

Von Hakim Khatib

Nach fünf Jahren Syrienkrieg lassen sich "vier" Konfliktparteien im Land ausmachen: Assad, ISIS, Aufständische und Kurden. Jede Konfliktpartei hat regionale und internationale "Hintermänner". Ironischer Weise sind diese ihrerseits darin uneins, für wen oder gegen wen sie kämpfen.

Hinter dem syrischen Regime stehen Iran, Russland, die Hisbollah und irakische Milizen. Hinter ISIS steht die Flut der Dschihadisten aus aller Welt. Die Aufständischen werden von den Golfstaaten, der Türkei, Jordanien und den USA unterstützt. Hinter den Kurden stehen die USA.

In den Medien hören wir stets: "der Syrienkonflikt", "die Syrienkrise" oder "der Syrienkrieg". Ich frage mich, was an diesem Krieg eigentlich das Syrische ist. Es ist wohl eher ein Krieg auf dem Boden Syriens, in dem mehr als 50 Prozent der syrischen Bevölkerung vertrieben wurden, in dem mehr als 220.000 Menschen starben und noch viel mehr verwundet wurden oder in Gefangenschaft gerieten. Laut Amnesty International, benötigen mehr als 12,8 Mio. Syrer "dringend humanitäre Hilfe". Ganz abgesehen von dieser humanitären Katastrophe ist heute ein Großteil des Landes samt seiner Infrastruktur zerstört.

Was also ist syrisch am "Syrienkrieg"? Als sich im März 2011 die ersten friedlichen Proteste formierten, ging das Regime mit brutaler Härte dagegen vor und tötete in wenigen Wochen Hunderte von Zivilisten. Es entfachte damit eine Spirale blutiger Gewalt. Die Ursachen der Proteste waren weder ideologischer noch religiöser Natur. Die Menschen erhoben sich gegen politische Unterdrückung, wirtschaftliche Not, Menschenrechtsverletzungen, Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption.

Granateneinschlag in Duma, östlich von Damaskus, am 30. Oktober (Foto: Getty Images/AFP/S. Al-Doumy)
Rückendeckung für das Assad-Regime: "Ende 2012 schickte der Iran täglich Frachtflugzeuge mit Hunderten von Offizieren an Bord nach Syrien. Zudem leistet der Iran bis heute erhebliche logistische, technische, finanzielle und militärische Unterstützung", schreibt Khatib.

Aus den Reihen von Geheimdienst, Polizei und Armee - die bekanntermaßen an der Niederschlagung der friedlichen Demonstrationen beteiligt waren – bildeten Überläufer die sogenannte "Freie Syrische Armee" (FSA) und stellten sich der Brutalität des Regimes entgegen. Die FSA begann, alle diejenigen aufzunehmen, die unter ihrem Kommando bereit waren, gegen das Regime zu kämpfen. Ab diesem Zeitpunkt wandelte sich der syrische Aufstand zum Bürgerkrieg.

Die Anziehungskraft des Krieges

Im Zuge der ideologischen Mobilmachung im Jahr 2012 machten sich Dschihadisten aus aller Welt auf den Weg nach Syrien, um sich den Aufständischen anzuschließen. Assad fachte diese Entwicklung an, indem er Dschihadisten aus seinen Kerkern mit der Absicht entließ, die Aufständischen zu radikalisieren und zu diskreditieren – insbesondere nachdem das Regime die Kontrolle über die nördlichen Landesgrenzen verloren hatte.

Im Januar desselben Jahres gründete Al-Qaida in Syrien die Al-Nusra-Front und brachte sich gegen das Regime in Stellung. Zu dieser Zeit bewaffneten sich zudem kurdische Gruppen und setzten sich von Assad auf der Suche nach Autonomie ab. Dieses Jahr markierte den Anfang des Stellvertreterkriegs in Syrien.

Der Iran als stärkster Verbündeter Assads griff in den Konflikt ein. Ende 2012 schickte der Iran täglich Frachtflugzeuge mit Hunderten von Offizieren an Bord nach Syrien. Zudem leistet der Iran erhebliche logistische, technische, finanzielle und militärische Unterstützung.

Im Dezember 2013 hatte der Iran schätzungsweise 10.000 operative Kräfte in Syrien, wozu auch Tausende der iranischen paramilitärischen "Basidsch" zählten - neben arabisch sprechenden schiitischen Freiwilligen und irakischen Kombattanten. Mitte 2012 schloss sich die libanesische Hisbollah dem Kampf gegen die Aufständischen in Syrien an. Die Hisbollah übernahm eine aktive Rolle auf den Schlachtfeldern, so beispielsweise im Kampf um Al-Kusair (19. Mai - 05. Juli 2013) zwischen Aufständischen und Regierungstruppen.

Im Gegenzug versorgen die Golfstaaten - namentlich Saudi-Arabien und Qatar - die Aufständischen mit Geld und Waffen, und zwar vornehmlich über die Türkei und Jordanien. Saudi-Arabien unterstützt radikal-salafistische Gruppen, wie beispielsweise "Die Armee des Islam" ("Dschaish al-Islam") unter dem Befehl von Zahran Alloush.

Ein Opfer eines Senfgas-Angriffs des IS wird in Damaskus versorgt, September 2015 (Foto: picture-alliance/AA/M.Omer)
In den vergangenen fünf Jahren hat sich der Bürgerkrieg in Syrien zu einem Stellvertreterkrieg unterschiedlichster Konfliktparteien entwickelt. Nicht nur das Assad-Regime, der selbst ernannte Islamische Staat (IS), Aufständische und Kurden kämpfen gegeneinander. Auch die USA, Russland, Iran, Saudi-Arabien und zahlreiche weitere Akteure mischen mit.

Im Unterschied zu Saudi-Arabien investiert Qatar gewaltige Mittel in die Unterstützung der Moslembruderschaft und radikalerer Aufständischer mit Verbindungen zu Al-Qaida. Zur Eindämmung des saudischen Einflusses in Syrien stärkte Katar gemeinsam mit der Türkei die ultrakonservative "Ahrar al-Sham" (10.000 - 12.000 Kämpfer) unter dem Befehl von Hassan Abboud. Paradoxerweise boten die Golfstaaten den syrischen Flüchtlingen keine Ansiedlungsmöglichkeiten an.

Diese Spaltung zwischen den Mächten der sunnitischen Mehrheit, die einerseits der Opposition nahestehen, und den schiitischen Mächten, die dem Regime Assad nahestehen, kennzeichnet die sektiererische Dimension des Konflikts.

Beteiligung der USA

Angeblich aufgeschreckt von den Gräueltaten Assads gegen sein eigenes Volk im Jahre 2013 erteilte die USA dem CIA die Befugnis, syrische Aufständische im Kampf gegen Assad auszubilden und auszurüsten. Damit traten die USA aktiv in den Bodenkampf ein. Obwohl die USA die Golfstaaten drängte, die Unterstützung von Extremisten in Syrien einzustellen, verkaufte die USA zwischen 2010 und 2015 Waffen im Gegenwert von mehr als 90 Mrd. US-Dollar an Saudi-Arabien, wie aus den Angaben des "Congressional Research Service" (CRS) hervorgeht.

Im selben Jahr setzte Assad in den von Aufständischen kontrollierten Gebieten chemische Waffen gegen Zivilisten ein. Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) unterrichtete die Vereinten Nationen darüber, dass in Syrien "wiederholt und systematisch Chlorgas eingesetzt wird". Im September 2013 sagte Obama: "... Es [entspricht] den nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten [...], auf den Einsatz von Chemiewaffen durch das Assad-Regime mit einem gezielten Militärschlag zu reagieren."

Dieser Schlag gegen Assad unterblieb, nachdem Russland - als langjähriger Verbündeter Assads - vorschlug, die Chemiewaffen unter internationale Kontrolle zu stellen und später zu vernichten. Dies macht den gravierenden Machtkonflikt zwischen Russland als Unterstützer Assads und den USA als dessen Gegner deutlich.

Flüchtlinge erreichen die griechische Insel Kos, 7. November 2015 (Foto: Reuters/A. Konstantinidis)
At what cost: more than 50% of Syria′s population have been displaced, over 220 thousand killed, and many more injured or imprisoned. According to Amnesty International, more than 12.8 million Syrian people are in ″urgent need of humanitarian assistance″

Im Februar 2014 übernahm ISIS die Kontrolle über Gebiete im Irak und in Syrien, zog dabei Kämpfer aus aller Welt an und wurde ironischer Weise zum Gegner von Al-Qaida. Doch ISIS bekämpft nicht Assad, sondern die Kurden und andere Aufständische. 2014 betrug die Zahl ausländischer Dschihadisten schätzungsweise zwischen 10.000 und 12.000, wovon mehr als 3.000 aus westlichen Ländern stammten. Begleitet vom ständigen Aufruf der meist nicht-syrischen Kleriker, die syrischen Aufständischen zu unterstützen, strömen Jahr für Jahr Tausende ausländischer Kämpfer nach Syrien. 

Kampf gegen ISIS

Im September 2014 flog eine Koalition unter Führung der USA Luftangriffe gegen ISIS auf syrischem Territorium. Hier kam erneut die CIA ins Spiel, als sie die Ausbildung syrischer Kämpfer unterstützte, die ausschließlich gegen die Dschihadisten kämpfen.

Während die USA und andere westliche Länder deutlich klarstellten, dass sie eher gegen ISIS als gegen Assad vorgehen, begann die Türkei mit der Bombardierung kurdischer Gruppen, obwohl die Kurden ISIS seit dessen Gründung bekämpfen. Die Türkei bombardiert die Dschihadisten nicht. Denn sie und die USA vertreten jeweils eine andere Auffassung darüber, wer in Syrien der Hauptgegner ist.

Während Assad gegenüber ISIS und den Aufständischen Boden verliert, interveniert Russland in seinem Namen und tritt für eine Bombardierung von ISIS ein. Russland bombardiert die Gegner Assads, und zwar auch diejenigen, die von den USA unterstützt werden.

 Während die Stimme der Syrer außerhalb der Flüchtlingslager kaum gehört wird, veranstalten Amerikaner, Europäer, Russen, Türken, Iraner und Araber Konferenzen, um im Versuch um eine Lösung des "Syrienkonflikts" zu koalieren, zu kollidieren, zu beschließen und zu streiten.

Laut US-Verteidigungsministerium flog die Koalition im Jahr 2015 alleine 2.680 Luftangriffe in Syrien, von denen 2.540 auf die USA und 140 auf den Rest der Koalition entfielen (Australien, Bahrain, Kanada, Frankreich, Jordanien, Saudi-Arabien, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate). Fakt ist, dass praktisch kein Bürger Syriens von der Krise verschont bleibt und dass Syrien in einen blutigen Krieg versinkt, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Was also ist syrisch am Syrienkrieg?  Vielleicht nur die humanitäre Katastrophe.

Hakim Khatib

© Qantara.de 2015

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers