Erst Assad, dann der "Islamische Staat"

Wer den "Islamischen Staat" erfolgreich bekämpfen will, muss den Syrienkonflikt lösen. Dafür braucht es vor allem eines: eine Alternative zum Assad-Regime. Die kann nur in Schutzzonen entstehen, schreibt Kristin Helberg in ihrem Kommentar.

Von Kristin Helberg

Es klingt alles so hoffnungsvoll. Der UN-Sicherheitsrat spricht mit einer Stimme, Außenminister rotieren zwischen Moskau, Teheran, Riad, Ankara, den Golfstaaten und Damaskus und selbst ideologische Feinde reden miteinander. Saudi-Arabien mit Assad-Entsandten, Oppositionelle der Nationalen Koalition mit Russland und iranische Unterhändler mit der islamistischen Rebellengruppe "Ahrar al-Sham".

Stehen wir also kurz vor einer politischen Lösung des Syrienkonflikts? Leider nein. Was wir sehen, ist dreierlei. Erstens, ein Wetteifern zwischen Russland und Iran um die Frage, wer in Syrien mehr Einfluss und somit mehr diplomatisches Gewicht hat. Zweitens, den verzweifelten und gnadenlosen Plan des Assad-Regimes, die Zeit bis zu unvermeidbaren Verhandlungen zu nutzen, um strategisch wichtige Gebiete im Westen des Landes zu sichern. Und drittens, eine hysterische Angst vor dem IS, die alles dominiert – das Denken in Washington und Europa, die Strategien und Allianzen in der Region. Letztere zusätzlich erschwert durch einen größenwahnsinnigen türkischen Präsidenten, der eine Einigung in der Kurdenfrage für seine Allmachtsfantasien zu opfern bereit ist.

Dabei lässt sich, was kompliziert klingt, in zwei einfachen Sätzen sagen. Baschar al-Assad kann Syrien nicht mehr kontrollieren. Und den IS will niemand dort haben. Diesen Aussagen stimmen auch Unterstützer des Regimes zu. Sie wären folglich eine gute Arbeitsgrundlage. Doch die Zeit scheint noch nicht reif dafür.

Falsche Lösungsansätze

Der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura will die Syrer deshalb zunächst in vier Arbeitsgruppen über den Schutz von Zivilisten, rechtliche Fragen, den Anti-Terror-Kampf und den Wiederaufbau diskutieren lassen. Das klingt konstruktiv, kann aber dauern – damit haben alle jene, die an einer militärischen Lösung festhalten (Assad und die Dschihadisten), Zeit gewonnen und die internationale Gemeinschaft kann sich entspannt einreden, eine diplomatische Lösung sei auf dem Weg.

Während de Misturas Plan eine "Übergangsregierung mit voller Exekutivgewalt" vorsieht, sprechen Moskau und Teheran lieber von einer "Regierung der nationalen Einheit". Genau da liegt der Knackpunkt. Der im Genfer Abkommen 2012 formulierte "Übergang" bedeutet, dass Syriens heutige Machthaber, insbesondere Präsident Assad selbst, am Ende keine politische Rolle mehr spielen. So fordert es die Opposition, die sich über alle Lager hinweg einig ist, dass man mit Regimeverantwortlichen zwar ohne Vorbedingungen verhandeln muss, aber nicht zukünftig regieren wird. Denn ohne Machtwechsel kein glaubwürdiger Neuanfang.

Russland und Iran dagegen wollen, dass Assad sich mit Vertretern der Opposition verständigt und eine Einheitsregierung unter seiner Führung bildet. Ein illusorischer Plan, da nach mehr als 250.000 Toten und 12 Millionen Vertriebenen kein syrischer Oppositioneller mehr zu einer Koalition mit Assad bereit ist. Deshalb versuchen es Moskau und Teheran jetzt über den Anti-Terror-Kampf. Sie wollen eine internationale Allianz gegen den IS schmieden und Assad darin einbinden. Die Sicherheit und Stabilität der Region stehe auf dem Spiel, so heißt es, da müsse man alles andere unterordnen.

Der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura; Foto: picture-alliance/AA
– damit haben alle jene, die an einer militärischen Lösung festhalten, Zeit gewonnen und die internationale Gemeinschaft kann sich entspannt einreden, eine diplomatische Lösung sei auf dem Weg.

Wie wahr. Sicherheit und Stabilität, genau darum geht es. Auch uns in Europa angesichts von Hunderttausenden Flüchtlingen. Nur leider ist Assad unfähig, irgendwo für Sicherheit zu sorgen. Im Gegenteil, er ist der Hauptverursacher von "Instabilität", indem er mit seiner Luftwaffe mindestens siebenmal so viele Zivilisten tötet wie der IS, geächtete Fassbomben abwerfen lässt (mehr als 11.000 seit dem UN-Verbot im Februar 2014), chemische Stoffe einsetzt (mehr als 120 Angriffe mit Chlorgas) und etwa 500.000 Menschen in abgeriegelten Gebieten aushungert.

Eine glaubwürdige Alternative zu Assad

Assad ist es, der Millionen Menschen treibt – entweder über die Grenzen in die Nachbarländer und nach Europa oder direkt in die Arme des IS. Denn jedes zerbombte Krankenhaus und jeder in Blut getränkte Marktplatz lässt Menschen verzweifeln und sich radikalisieren. Wenn weder gemäßigte Kräfte noch die internationale Gemeinschaft den Syrern Schutz bieten können, dann erscheint der IS irgendwann als letzte Rettung. Schon jetzt inszeniert sich die Terrorgruppe als Schutzmacht der Sunniten im weltweiten Krieg gegen den Islam. Eine Katastrophe, die zeigt, dass der IS nicht nur militärisch, sondern auch ideologisch bekämpft werden muss.

Dafür braucht es vor allem eines: eine glaubwürdige Alternative zu Assad. Erst wenn keine Fassbomben mehr auf Wohnhäuser regnen und Kinder nicht mehr vor den Augen ihrer Eltern verhungern, können die Syrer einen geeinten Kampf gegen den IS führen. Das Ende des Assad-Regimes ist die Voraussetzung für einen Sieg über den IS. Je schneller das auch Iran und Russland begreifen desto besser – schließlich sind sie es, die das Überleben Assads militärisch und finanziell sichern.

Ohne seine beiden Sponsoren wäre Assad nicht in der Lage, die für ihn wichtigen Gebiete in Damaskus und an der Küste zu halten. Dabei kostet Assad viel und bringt wenig – im besten Fall einen Hisbollah-kontrollierten Ministaat an der Grenze zum Libanon zur Wahrung iranischer Interessen und einen gesicherten russischen Marinestützpunkt in Tartous. Aber reicht das? Genau da muss die Diplomatie ansetzen. Sollten Russland und Iran von anderer Seite Garantien erhalten, die Assad ihnen nicht mehr bieten kann, hätten Verhandlungen Aussicht auf Erfolg.

Eine Alternative braucht auch der Westen. Er lässt Assad gewähren – nicht weil er Massenmord gutheißt oder Syrien zerstören will (wie viele Syrer glauben), sondern weil er nicht weiß, was ihm nachfolgt. Amerikaner und Europäer verhindern so lange eine effektive Unterstützung der Rebellen und einen Zusammenbruch des Regimes bis klar ist, dass nicht der IS und auch nicht die Nusra-Front das Machtvakuum in Damaskus füllen.

Dummerweise haben sie mit ihrer Zögerlichkeit genau das bekommen, was sie verhindern wollten: die Dominanz radikaler Gruppen in Syrien. Wie also sollten in dieser Lage verbündete Oppositionelle und gemäßigte Rebellen ans Ruder kommen, die einem Zusammenbruch staatlicher Institutionen entgegenwirken und Sicherheit für alle herstellen können?

Fassbombenabwurf in Aleppo; Foto:
Mit Fassbomben gegen die eigene Bevölkerung: In Syrien herrscht seit 2011 Bürgerkrieg zwischen dem Assad-Regime und mehreren Rebellengruppen. Nach UN-Angaben wurden bislang über 250.000 Menschen getötet. Zwölf Millionen Menschen sind auf der Flucht, davon etwa 7,8 Millionen innerhalb Syriens.

Der erste Schritt wäre zu verhindern, dass das Regime weiterhin jedes zivile Bemühen um alternative Strukturen zerbombt. Es gibt in Syriens oppositionell kontrollierten Gebieten acht demokratisch legitimierte Provinzräte sowie Hunderte Lokaler Räte und zivilgesellschaftlicher Gruppen, die mit dem Ausheben von Massengräbern und dem Beschaffen von Essen und Medikamenten beschäftigt sind, statt mit dem Aufbau eines neuen Syriens, für das sie jahrelang demonstriert haben.

Schutzzonen als Schlüssel für eine politische Lösung

Diese Syrer – ob Rebellen, Aktivisten, Oppositionelle oder einfache Bürger – fordern alle nur das eine: Schutz vor den Luftangriffen des Regimes. Dafür braucht es mit großer Wahrscheinlichkeit nur die erklärte Bereitschaft, Helikopter und Kampfjets des Regimes in einem bestimmten Gebiet nicht mehr zu dulden. Nachdem die Türkei verkündete, zusammen mit den USA eine Schutzzone einrichten zu wollen, fielen zeitweise gar keine Fassbomben mehr auf Aleppo.

Allerdings darf es nicht auf eine türkisch durchgesetzte Mini-Schutzzone à la Erdoğan hinauslaufen, die eine zusammenhängende Kurdenregion verhindern soll. Es müsste vielmehr ein bevölkerungsreiches Gebiet in den Provinzen Aleppo und Idlib so international wie möglich geschützt werden.

Eine solche Zone würde nicht nur Menschenleben retten, Flüchtlingen eine Rückkehr ermöglichen und der Opposition den nötigen Raum für den Aufbau einer neuen Ordnung bieten. Sie würde auch Assad an den Verhandlungstisch zwingen und Russland und Iran ein Umdenken erleichtern.

Zu teuer, nicht gewollt, international nicht durchsetzbar? Alles vorgeschoben. Schutzzonen sind der Schlüssel zu einer politischen Lösung in Syrien. Ohne sie keine Alternative zu Assad. Und ohne einen Übergang in Damaskus kein Sieg über den IS.

Kristin Helberg

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