Eine staatenlose Gesellschaft

In Libyen schreitet die politische Spaltung des Landes weiter voran. Amal El-Obeidi, Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bengasi, macht zwei historische Gründe für die gegenwärtige Situation verantwortlich: das Fehlen einer libyschen Identität und die tribale Gesellschaftsstruktur des nordafrikansichen Landes. Von Laura Overmeyer

Von Laura Overmeyer

"In Libyen kommt es weiterhin zu bewaffneten Konflikten und Gewalthandlungen, ebenso wie zu andauernden Verletzungen des internationalen Rechts, was in vielen Gegenden den Tod hunderter Menschen, Massen-Vertreibungen und humanitäre Krisen zur Folge hat", berichtet das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte in einer Ende Dezember veröffentlichten Analyse.

Seit Monaten schon erreichen uns Schreckensnachrichten aus dem nordafrikanischen Staat, der vor fast drei Jahren voller Zuversicht die Fesseln der mehr als vierzigjährigen Gaddafi-Diktatur abschüttelte – und nun in einem selbstzerstörerischen Bürgerkrieg zu versinken droht.

Islamisten kämpfen gegen Säkulare, alte Regimetreue gegen junge Revolutionäre; rivalisierende Städte und verfeindete Stämme tragen ihren Zwist mit Waffengewalt aus und zu allem Überfluss scheint nun auch der sogenannte „Islamische Staat“ mitzumischen. Jeder gegen jeden. So zumindest wirkt es auf den ersten Blick.

Kampf zweier Machtzentren

In einem Bericht für Foreign Affairs versucht Wolfram Lacher, Libyen-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, Klarheit in dieses Chaos zu bringen: "Im Zentrum des Konflikts steht der Kampf zweier Machtzentren bestehend aus Netzwerken von Städten, Stämmen und Milizen. Beide Seiten konkurrieren um die politische Autorität und Legitimität in einem Land, in dem funktionierende Institutionen de facto nicht existieren. In den vergangenen Monaten sind die verschiedenen kämpfenden Fraktionen mit jeweils einer der rivalisierenden Seiten verschmolzen."

Jedes der beiden Machtzentren stellt eine Regierung und kooperiert mit einem Miliz-Verband. Die nordöstliche Stadt Tobruk ist Basis der international anerkannten Regierung um Premierminister Abdullah al-Thinni, welche sich dadurch legitimiert, dass sie aus dem im Juni 2014 gewählten Parlament hervorging. Sie steht in Verbindung mit der Miliz "Karama" (Würde), welche von dem ehemaligen Gaddafi-General Khalifa Haftar geleitet wird, der es sich zum Ziel setzt, die libysche Hauptstadt Tripoli zu erobern.

Der abtrünnige Armeegeneral Khalifa Haftar, Foto: picture-alliance/dpa
Der abtrünnige Armeegeneral Khalifa Haftar hatte im Mai 2014 eine "Karama" (Würde) genannte Militäroffensive gegen islamistischen Milizen im Land gestartet. Seitdem baut er eine national gesinnte Armee auf und leistet vor allem den Islamisten in Bengasi Widerstand. Haftar unterstützt das Parlament in Tobruk; Libyens offizielle Streitkräfte sind im Land weitestgehend machtlos.

Diese wird seit August von Rebellen besetzt, die dort eine Parallel-Regierung unter Omar al-Hassi etabliert haben. Sie stehen in Verbindung mit dem Miliz-Verbund "Fajr" (Morgendämmerung), dem eine radikal-islamistische Ausrichtung nachgesagt wird. Sie ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der IS-nahen Organisation "Ansar al-Sharia", welche unabhängig in Bengasi operiert.

"Keine der beiden Seiten hat von außen betrachtet mehr Legitimität als 'staatliche Institution' als die andere", befindet Lacher. "Zwar war al-Thinnis Regierung ursprünglich eine gewählte Legislative, doch ist sie inzwischen ausgehöhlt und kaum repräsentativ – ganz abgesehen davon, dass die Parlamentswahlen im Juni ohnehin problematisch abliefen. Zudem sind beide Seiten gewaltsam gegen Zivilisten vorgegangen und zeigen sich absolut kompromisslos angesichts eines mögliches Dialogs."

Die Tatsache, dass die Regierung in Tobruk international als legitime Autorität anerkannt wird, schätzt Lacher kontraproduktiv ein. Der Konflikt könne nur durch die Einsetzung einer von allen Seiten anerkannten Regierung gelöst werden und dies sei durch die Parteinahme ausländischer Staaten unmöglich. "Es ist wichtig anzuerkennen, dass die Tobruk-Regierung ein Teil des Teufelskreises ist."

Ein geeintes Libyen?

Doch wie konnte dieser Teufelskreis entstehen? Gingen die Libyer nicht geeint gegen Gaddafi vor und waren sie nicht optimistisch bezüglich ihrer Visionen eines neuen libyschen Staates? Wieso war es ihnen nicht möglich, diese Einigkeit zu erhalten? Und woher stammt die Zwietracht, die dazu führt, dass Menschen willkürlich aufgrund ihrer Religions- oder Stammeszugehörigkeit von ihren Landsleuten entführt oder angegriffen werden?

Libyens Provinzen Tripolitania, Cyrenaica, Fezzan; Quelle: DW
Regionale und tribale Unterschiede als Herausforderungen für einen politischen Einigungsprozess: Libyens Provinzen Tripolitania, Cyrenaica und Fezzan

Amal El-Obeidi, Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bengasi, macht insbesondere zwei historische Gründe für die aktuelle Situation verantwortlich: die Abwesenheit einer einenden libyschen Identität und die tribal orientierte politische Kultur der Libyer.

"Historisch wurde Libyen nie als Einheit gesehen, sondern als drei regionale Größen: Tripolitanien, Fessan und Cyrenaica. Diese Teilung spiegelt sich auch in der heutigen Situation wider, denn jede dieser Regionen entwickelte eigene Strukturen und Kulturen", erklärte El-Obeidi im vergangenen Dezember während ihres Vortrags in der Geschäftsstelle der "Deutsch-Arabischen Freundschaftsgesellschaft" (DAFG). "Zudem war Libyen bis zur Unabhängigkeit 1951 immer nur Teil eines anderen Reiches. Man kann sagen, dass die libysche Gesellschaft historisch gesehen eine staatenlose Gesellschaft ist."

Vor diesem Hintergrund stützen sich die Libyer in rechtlichen, sozialen und kulturellen Fragen stets auf die einzig beständige Institution, die ihnen seit jeher vertraut war: das Stammeswesen.

"Familie, Clan und Stamm sind die traditionellen Einheiten der libyschen Gesellschaft", so El-Obeidi. "Noch heute bestimmen sie das Leben und Verhalten der Menschen. Den Libyern fehlt das Grundvertrauen in zentrale politische Institutionen. Partizipation und Demokratie sind nicht in ihrer politischen Kultur verwurzelt und können daher auch nicht von heute auf morgen erwachsen.

"El-Obeidi sieht jedoch in den festen territorialen Stammesstrukturen nicht nur ein Hindernis, sondern auch eine Chance für den zukünftigen libyschen Staat, der auf einem dezentralisierten Staatskonzept fußen könnte.

"Die Libyer waren niemals Libyer"

Amal El-Obeidi, Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bengasi; Foto: DAFG
Amal El-Obeidi, Professorin für vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bengasi: "Was wir für Libyen brauchen, ist eine Persönlichkeit wie Nelson Mandela"

Eine weitere Folge der oben genannten historisch-geografischen Zerteilung war das Ausbleiben einer nationalen Identitätsfindung, oder, wie es einst der frühere libysche Premierminister Abd al-Hamid al-Bakkush formulierte: "Die Libyer waren niemals Libyer".

Eine Studie, die El-Obeidi in den 1990er Jahren an der Universität Bengasi zum Thema "Identität" durchführte (und deren Publikation vom Gaddafi-Regime verboten wurde) ergab, dass die libysche Identität kaum Bedeutung erfuhr. Die Studenten betrachteten sich zuallererst als Muslime, dann als Angehörige eines Stammes oder einer Familie, als Araber (nicht zuletzt durch den von Nasser und später auch Gaddafi propagierten Arabischen Nationalismus) oder als Maghrebiner –  nicht aber als Libyer.

"Wenn wir einen Staat aufbauen wollen, so muss es uns gelingen, eine vereinende Identität zu schaffen und unsere Gemeinsamkeiten zu betonen", glaubt El-Obeidi. "Nur so können wir langfristig ein stabiler und sicherer Staat werden. Diese Einigung kann nur von innen kommen und nicht durch äußere Interventionen erzwungen werden."

Einigende Elemente seien Sprache und Religion – und zwar der "ursprüngliche", sunnitisch-maliktische Islam der Libyer, nicht der aufkommende Islamismus. Auch die wertvollen Ressourcen Öl und Wasser haben ihrer Ansicht nach auf lange Sicht das Potential, die Menschen zu einen – auch wenn gegenwärtig die Zwietracht eher schüren und zum umkämpften Objekt aller Seiten geworden sind.

Nichtsdestotrotz hofft El-Obeidi, dass es den Libyern eines Tages gelingen wird, eine einigende libysche Identität zu erschaffen. "Ich persönlich bin stolz darauf, eine Libyerin zu sein", sagte während ihres Vortrags – und fügte lächelnd hinzu "Was wir für Libyen brauchen, ist eine Persönlichkeit wie Nelson Mandela."

Laura Overmeyer

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