Aufstand der Basis

Der taz-Journalist Deniz Yücel hat sich als Chronist der Ereignisse des Gezi-Aufstands vom vergangenen Sommer betätigt und für seine Recherchen 96 verschiedene Protestler am Bosporus getroffen. Herausgekommen ist das Sachbuch "Taksim ist Überall". Luise Sammann stellt es vor.

Von Luise Sammann

"Ich habe noch nie zuvor in meinem Leben Tränengas geschluckt", berichtet der 20-jährige Mathematikstudent Levent, der mit seinen Eltern im Kleine-Leute-Viertel Bayrampaşa lebt. "Aber vor allem konnte ich es meinen Eltern nicht erklären, was ich im Gezi-Park gesehen habe. Die haben im Fernsehen gehört, dass das alles Terroristen gewesen sein sollen – da konnte ich ihnen noch so viel erzählen oder Youtube-Videos zeigen."

Es sind Begegnungen wie diese, die aus Deniz Yücels Erstlingswerk "Taksim ist überall" viel mehr machen, als nur eine Rekonstruktion des türkischen Ausnahmesommers 2013. Was der Berliner Journalist mit türkischen Wurzeln stattdessen vorlegt, ist ein Marathon durch die türkische Gesellschaft: 96 Gesprächspartner hat er für seine Recherchen getroffen – Fußballfans und Managerinnen, Kurden und Islamisten, Transvestiten und Kebabverkäufer… Menschen, die charakteristisch für bestimmte Stadtviertel, Städte oder Milieus stehen und so in ihrer Gesamtheit ein Porträt der mehr als 3,5 Millionen Gezi-Demonstranten darstellen.

Facettenreicher Widerstand

Schnell wird dabei deutlich, wie unterschiedlich die Motive waren, die damals scheinbar über Nacht zu den größten Protesten der jüngeren türkischen Geschichte führten. Die einen kamen, um die Bäume des Gezi-Parks vor der Abholzung zu retten oder um Atatürks Republik wiederherzustellen. Andere dagegen wollten einen ihrer Meinung nach "wahren" Islam gegen den "falschen" von Ministerpräsident Erdogan verteidigen.

Buch-Cover "Taksim ist überall" von Deniz Yücel
In seinem Buch "Taksim ist überall" beleuchtet der Berliner taz-Redakteur Deniz Yücel die Hintergründe der Gezi-Park-Proteste und stellt verschiedene Porträts von Demokratieaktivisten am Bosporus vor.

Aber es kamen auch solche Menschen wie Oguz aus dem als linksradikal verschrienen Armenviertel Gazi, um das zu tun, was sie immer tun, nämlich Widerstand zu leisten. "Bei uns kümmert sich doch keiner großartig um irgendwelche Bäume", gesteht er freimütig in Yücels Buch. "Für uns war es mehr ein Gerechtigkeitsgefühl: Die Polizei geht mit Gewalt gegen Menschen vor, das Volk wehrt sich."

"Ich wollte erzählen, wer diese Leute waren, woher sie kamen, wie sie leben und wie sie leben wollen", berichtet der Autor während eines Spaziergangs über den Taksim-Platz im Februar 2014. Und bei diesem Versuch, all das herauszufinden und zu beschreiben, bleibt Yücel selbst ein zurückhaltender Autor, tritt kaum in Erscheinung, wertet wenig. Und doch zeigt er mit der Auswahl seiner Gesprächspartner und Szenen eine klare Haltung, eine Bewunderung für das, was da im letzten Sommer in der Heimat seiner Eltern passiert ist.

Fehlende Distanz

Wer von "Taksim ist überall" einen objektiven oder gar distanzierten Bericht erwartet, der sollte von diesem Buch daher lieber die Finger lassen. Deniz Yücel war mitten drin – genauso, wie die zahlreichen Menschen, die er in den Monaten nach den Protesten besucht und befragt hat. Aus dem Journalisten wurde so immer wieder auch ein Teilnehmender, der sich in bestimmten Kreisen bewegte, bestimmte Meinungen teilte und sich mit Tausenden anderen vor den Wasserwerfern und Tränengaskartuschen der Polizei in Sicherheit brachte. Das kann man kritisieren.

Man kann es aber auch als Erklärung dafür nehmen, warum dieses Buch so nah an den Gezi-Ereignissen dran ist, wie kein noch so objektiver Hintergrundbericht es jemals hätte sein können. "Das war ein gesellschaftlicher Aufstand und nicht einfach irgendeine Demo", erklärt Yücel heute, mit dem Abstand von neun Monaten und 224 Buchseiten. "Ich habe als Journalist gearbeitet, aber natürlich galt meine Sympathie dieser Bewegung."

Trügerischer Schein

Heute deutet am Taksim-Platz nichts mehr auf die Aufregung und die Gewalt von damals hin. Längst haben die Passanten wieder volle Einkaufstüten in den Händen, anstatt Poster und Plakate. Sesamkringelverkäufer schieben ihre duftende Ware über den Bürgersteig und selbst im Gezi-Park nebenan blühen von der Stadtverwaltung angepflanzte Stiefmütterchen, als wäre nichts gewesen. Doch der Schein trügt, ist sich nicht nur Deniz Yücel sicher.

Deniz Yücel; Foto: Luise Sammman
"Nicht irgendeine Demo, sondern ein gesellschaftlicher Aufstand": In "Taksim ist überall" beleuchtet der Journalist Deniz Yücel die verschiedenen politischen Akteure der Gezi-Protestbewegung in der Türkei.

Ob nicht schon genug über Gezi geschrieben wurde, fragt er in seinem Buch einen jungen Mann, der zu den Gezi-Demonstranten gehörte und seitdem davon träumt, seine Erlebnisse von damals aufzuschreiben. "Auf keinen Fall", lautet die Antwort:

"Meine Generation hat ihre Lethargie abgelegt. Zuvor haben wir uns nur über Fußball oder Partys unterhalten, jetzt sprechen wir über Politik. (…) Egal, was die Zukunft bringen wird – jede Regierung wird sich künftig bei jedem Vorhaben fragen: Was wird das Volk dazu sagen? Und wenn die Leute etwas falsch finden, werden sie Widerstand dagegen leisten. Beides war vorher anders."

Die Geschichte der türkischen Linken und der armenischen Minderheit, die Situation der türkischen Trans- und Homosexuellenbewegung, der Kurden, des Militärs und das Problem der Gentrifizierung in Istanbul… All das und noch viel mehr erfährt man bei der Lektüre von Yücels empfehlenswertem Sachbuch – ein abwechslungsreicher Rundumschlag zu allem, was die moderne Türkei so spannend und gleichzeitig so problematisch macht.

Nur manchmal fragt sich der Leser, ob der Autor sich dabei nicht zu sehr von seinem eigentlichen Ausgangspunkt, dem Taksim-Platz entfernt hat. Ob nicht – gerade für Menschen, denen die politische Situation in der Türkei nicht so geläufig ist – weniger manchmal mehr gewesen wäre.

Luise Sammann

© Qantara.de 2014

Deniz Yücel: "Taksim ist überall – Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei",  2014, Verlag Edition Nautilus, 224 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de