Integrationskonzepte für Deutschland und Europa

Seit Jahren beherrscht der Begriff "Integration" die Diskussion um das Thema Einwanderung. Migrationsforscher monieren, dass sich die Forderung nach Anpassung einseitig an die Zuwanderer richte und fordern einen Perspektivwechsel. Von Holger Moos

​​ Integrationskurs, Integrationsgipfel, Integrationsbarometer – das Schlagwort Integration ist in aller Munde und hat den Begriff des Multikulturalismus abgelöst. Die multikulturelle Gesellschaft ist in Verruf geraten.

Populärer sind Berichte über Fälle gescheiterter Integration. Wenn heute von Migration die Rede ist, folgen meist Problemdiskurse über Parallelgesellschaften, Ehrenmorde oder Zwangsehen.

Sabine Hess, Ethnologin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitherausgeberin des Sammelbandes "No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa", sieht in dem Buch einen "Versuch, eine andere Position wieder denkbar zu machen".

Eine solche Perpektivänderung wäre es etwa, Migranten einmal nicht primär als Menschen mit Defiziten zu betrachten, die es in "Integrationskursen" auszugleichen gelte. Ziel von Integration müsse Chancengleichheit durch Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben sein. Und das verlange außer den Zuwanderern eben auch den "Nicht-Zugewanderten" etwas ab.

Kulturen sind keine Container

Der aktuellen Integrationsdebatte liegt nach Ansicht der Herausgeber ein essenzialistischer Kulturbegriff zugrunde. Die aufnehmende Gesellschaft und die Einwanderungsgruppen würden als abgeschlossene Container betrachtet. Diese Vorstellung sei desintegrierend und betone das Trennende zwischen den Kulturen statt das Verbindende zu identifizieren.

Angelehnt an den Begriff des Gender-Mainstreaming setzen die Herausgeber diesem Containermodell das Konzept des "Migration-Mainstreaming" entgegen. Demzufolge gilt es Abschied zu nehmen von der Vorstellung einer homogenen nationalen Gesellschaft als Grundlage friedlichen Zusammenlebens.

Thiulo Sarrazin; Fotro: AP
Gegen rassistische Untertöne, wie sie jüngst auch von Thilo Sarrazin in polemischer Weise gegenüber Türken und Arabern zu hören waren, wollen die Autoren des Buches mit ihren fundierten Beiträgen Akzente setzen.

​​ Im Zeitalter der Mobilisierung von Menschen, Gütern und Ideen seien Lebensläufe über nationalstaatliche Grenzen hinweg längst Normalität. Deshalb müsse die migrantische Perspektive, die spezifischen Interessen, Lebensbedingungen und Leistungen von Migranten, stärker berücksichtigt werden. Diese transnationale Perspektive mündet in die Forderung nach globalen sozialen Rechten und Bürgerrechten.

Die durchweg lesenswerten Beiträge des Bandes beleuchten das Themenfeld Migration und Integration aus den Perspektiven von Politik, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft. Die kritische Auseinandersetzung mit dem herrschenden Integrationsbegriff zieht sich dabei durch alle Beiträge.

Die meisten Artikel thematisieren die Integrationsdebatte in Deutschland. Kritisiert werden etwa die rassistischen Untertöne im öffentlichen Diskurs über Parallelgesellschaften, aber auch der "positive Rassimus" mancher Position des so genannten Multikulturalismus.

Für ein kosmopolitisches Europa

Aus einer dezidiert europäischen Perspektive argumentieren der italienische Politologe Sandro Mezzadra und die Kulturanthropologin Regina Römhild. Mazzadra deutet die zeitgenössischen Migranten als koloniales Erbe Europas.

Ausländische Saisonarbeiter in Deutschland; Foto: AP
"Bürger zweiter Klasse": Insbesondere illegale Migranten besitzen keinerlei Bürgerrechte, ihre Arbeitskraft als Niedriglohnempfänger in den europäischen Gesellschaften ist jedoch stets willkommen.

​​Insbesondere illegale Migranten besäßen keinerlei Bürgerrechte, ihre Arbeitskraft sei jedoch willkommen. Sie seien "Bürger zweiter Klasse" und somit weiterhin "koloniale Untertanen" innerhalb Europas. So reproduziere sich der historische Kolonialismus in der europäischen Gegenwart und es drohe eine "europäische Apartheid".

Verhindern ließe sich das, wenn man dem französischen Philosophen Étienne Balibar folge und eine europäische "Staatsbürgerschaft des Aufenthalts" schüfe, die nicht nur den Bürgern der EU-Staaten offen stünde, sondern allen dauerhaft in Europa lebenden Menschen.

In Anlehnung an den deutschen Soziologen Ulrich Beck befasst sich Regina Römhild mit der Idee eines kosmopolitischen Europas. Sie sieht in den Migranten, die mit oder ohne Aufenthaltsgenehmigung in prekären Verhältnissen in Europa oder an dessen Peripherie leben, die Vorreiter eines "Kosmopolitismus von unten".

Der kosmopolitische Traum eines Lebens jenseits von Grenzen und nationalen Identitäten sei für diese Migranten keine hehre Utopie, sondern eine praktische Notwendigkeit, nämlich: "das Arrangieren und Einrichten in den prekären Bedingungen der neuen Einwanderungsgesellschaften".

Holger Moos

© Goethe-Institut 2010

Sabine Hess, Jana Binder, Johannes Moser (Hrsg.): "No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, transcript-Verlag, Bielefeld 2009"

Qantara.de

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