Gegen politisches Schubladendenken

Der Sammelband "Denk ich an Palästina" lässt zwar manche politische Frage offen. Doch die wichtigste Botschaft des Buches ist, dass man sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen kann, ohne deshalb gleich ein Antisemit zu sein. Von Martina Sabra

​​ Dass man sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt, sollte eigentlich kein Thema für Diskussionen sein. Doch wer sich in Deutschland für die Rechte der Palästinenser engagiert, muss oft sehr ausführlich diskutieren, denn fast automatisch steht der Vorwurf des Antisemitismus im Raum.

Kein anderes Thema löst in Deutschland solch heftige Debatten aus wie der Nahostkonflikt bzw. die Beziehungen zwischen Israel und Palästina. Oftmals wird dabei von selbsternannten Experten über die Köpfe der Beteiligten hinweggeredet.

Warum für die Rechte der Palästinenser?

Der in Frankreich lebende deutsche Friedensaktivist Günter Schenk wollte dem etwas entgegensetzen und die Akteure selbst zu Wort kommen lassen. Er bat insgesamt 26 Menschen zu erzählen, warum sie sich trotz vieler Widerstände für die Menschenrechte der Palästinenser engagieren.

Die Resultate seiner Feldforschung sind nun in einem Sammelband nachzulesen, den der deutsch-jüdische Verleger Abraham Melzer unter dem assoziationsreichen Titel "Palestine on my mind" – "Denk ich an Palästina" veröffentlicht hat.

Schenk hat Deutsche und Nichtdeutsche, Juden und Nichtjuden befragt. Die Bandbreite der politischen Standpunkte reicht vom Plädoyer für die Zweistaatenlösung bis zum radikalen Antizionismus.

Besonders spannend und eindrucksvoll sind die Beiträge der AktivistInnen mit jüdischem Hintergrund, unter ihnen Ruth Fruchtman, Evelyn Hecht-Galinski, Abraham Melzer. Zionismuskritische Juden werden in Deutschland oft extrem hart angegriffen, wobei die Anfeindungen nicht nur von Neonazis kommen, sondern auch aus rechten jüdischen Kreisen.

Das Spektrum der Attacken reicht von Beleidigungen wie "Alibi-Jude" über Verleumdungskampagnen bis hin zu Morddrohungen. Doch die AktivistInnen für eine gerechte Lösung in Nahost lassen sich nicht einschüchtern und sie formulieren in ihren Beiträgen klare Forderungen: ein demokratischer Staat Israel für Juden und Nichtjuden und das Ende der Besatzung im Westjordanland und in Gaza.

Die jüdischen AktivistInnen sind dabei nicht blauäugig. Sie wehren sich gegen politisches Schubladendenken und sie benennen offen die politischen Schwächen der Palästinenser. "Ich bin nicht pro-palästinensisch", schreibt die Französin Claire Paque. "Das ist ein falscher Begriff. Es ist die Anwendung internationalen Rechts, die wir hier verteidigen."

Reichskristallnacht in Berlin; Foto: AP
Reichskristallnacht in Berlin: Die meisten der interviewten AktivistInnen wurden in ihrer politischen Sozialisation von der Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus geprägt.

​​ Die Mehrheit der Beiträge des Bandes stammt von deutschen, nichtjüdischen Menschenrechtsaktivisten, die mehrheitlich im Zeitraum von 1920 und 1950 geboren wurden. Trotz des Altersunterschiedes haben sie einen wichtigen gemeinsamen Nenner: Sie entwickelten ihr politisches Bewusstsein und ihre Werte größtenteils vor dem Hintergrund des deutschen Nationalsozialismus und des Massenmordes an den Juden Europas.

"Mein Engagement für die Palästina-Problematik ist wesentlich geprägt von meiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus", sagt Ingrid Rumpf, die neben ihrem Engagement für palästinensische Flüchtlinge im Libanon auch eine vielbeachtete deutschlandweite Wanderausstellung über die Vertreibung der Palästinenser von 1948 organisiert.

Verschiedene Wege zur Palästina-Solidarität

Der Weg zur Palästina-Solidarität führte für die meisten nichtjüdischen, deutschen Aktivisten über die Solidarität mit Israel. Die älteren Erzählenden standen noch direkt unter dem Eindruck des Naziterrors und der grausamen Bilder aus den Konzentrationslagern nach der Befreiung 1945.

Die jüngeren erlebten die Verdrängung der Nazizeit im "Wirtschaftswunderdeutschland". Vor diesem Hintergrund wurde die Solidarität mit den überlebenden Juden und mit Israel bei manchem zu einer Form der Rebellion gegen die Eltern und die deutsche Nachkriegsgesellschaft.

Das Bekenntnis zu Israel wurde für diese jungen Leute zu einem Teil der persönlichen Identität. Zweifel am offiziellen Geschichtsbild und am Gründungsmythos Israels stellten eine existentielle Bedrohung ihres mühsam erarbeiteten neuen Wertegerüstes dar. Folgerichtig wurde alles verdrängt, was nicht in das Weltbild passte: Die Vertreibung und Enteignung der Palästinenser, die Auslöschung einer jahrhundertealten Kultur des Nahen Ostens.

Verstärkt wurde diese Tendenz, als die Palästinenser Ende der 1960er Jahre die internationale Aufmerksamkeit zunehmend durch Terroranschläge suchten. Palästinenser machten Angst. Dass Deutschland durch den Holocaust und die anschließende Gründung Israels an der palästinensischen Misere und an dem bewaffneten Widerstand mit Schuld sein könnte – kein Gedanke.

Tiefer Einblick in die inneren Konflikte

So erging es auch Anne Köhl, die in dem Buch auf ihre erste Begegnung mit einem palästinensischen Kommilitonen in den 1970er Jahren zurückblickt. Der junge Mann schenkte ihr damals ein Buch über Palästina, mit der Bitte, es zu lesen und mit ihm zu diskutieren. Doch sie lehnte entrüstet ab und schob das Buch weit hinten ins Regal.

Erst gut 30 Jahre später, als ihr eigener Sohn nach Palästina aufbrach und von dem Vorhaben auch nicht abzubringen war, sah Anne Köhl sich mit einem Mal gezwungen, ihre Vorbehalte aufzugeben und die andere Seite endlich wahrzunehmen. Eine konfliktreiche Zeit mit vielen Diskussionen begann. Heute setzt sie sich aktiv für Israel UND für das palästinensische Volk ein: "Weil es mit mir, meiner Identität, meinem Land unauslöschlich verbunden ist – wie das jüdische Schicksal."

Palästinensische Fahne
Warum Palästina? Viele der befragten Persönlichkeiten mussten einen inneren Konflikt ausfechten, bevor sie sich aktiv für die Palästinenser engagieren konnten.

​​ In vielen Beiträgen des Buches geht es um solche inneren Konflikte. Auch der Herausgeber Günter Schenk erzählt, dass ihn Gewissensbisse plagten, als ihm klar wurde, dass er seinen palästinensischen Freunden einfach nicht zugehört, ihr Leid einfach nicht registriert hatte.

Dennoch unterstreicht die Reutlinger Aktivistin Ingrid Rumpf, dass man sich selbst immer wieder die Frage nach antisemitischen Ressentiments stellen müsse. "Man muss sich immer wieder überprüfen. Besser einmal zuviel als einmal zu wenig. Aber ich lasse mich nicht einschüchtern."

Der Sammelband "Denk ich an Palästina" lässt manche Fragen offen, über die man gern mehr erfahren hätte – zum Beispiel die Auseinandersetzung mit linkem Antisemitismus oder mit den Selbstmordattentaten der 1990er Jahre. Doch die wichtigste Botschaft des Buches ist diese: man kann sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, ja sogar den Zionismus ablehnen, ohne deshalb ein Antisemit zu sein.

Die Persönlichkeiten, die sich hier zu Wort melden, sind weder Rassisten noch nützliche Idioten, sondern durchweg intelligent, klarsichtig und ehrlich. Sie stehen auf dem Standpunkt, dass Menschenrechte unteilbar sind und dass Israel mit exakt denselben Maßstäben gemessen werden muss wie alle anderen Länder auf der Welt.

Damit unterscheiden sie sich wohltuend von jenen selbsternannten "Freunden Israels" und "Antideutschen", die mit ihren verquasten Weltanschauungen und verqueren Argumentationen immer noch einen starken Einfluss auf die öffentlichen Debatten in Deutschland ausüben.

Martina Sabra

© Qantara.de 2011

"Denk ich an Palästina – Palestine on my mind. Günter Schenk präsentiert 26 Zeugnisse aus unserer Zeit", erschienen im Melzer-Verlag, Neu-Isenburg 2010, 232 Seiten

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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