Dilemma zwischen Herz und Kopf

Wie die meisten seiner Geschichten spielt Orhan Pamuks neuer Roman in seiner geliebten Heimatstadt Istanbul. Und wie immer sind seine Helden in ihrer Identität hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne. Gisa Funck hat das Buch gelesen.

Orhan Pamuk; Bild: AP
"Museen sind Orte, in denen sich Zeit in Raum verwandelt", sagt der türkische Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk.

​​Eigentlich scheint die Zukunft des reichen Fabrikanten-Sohns Kemal Basmaci aus Istanbul im neuen Roman von Orhan Pamuk klar vorgezeichnet.

Kemal ist dreißig Jahre alt. Hat in den USA studiert und leitet als designierter Nachfolger die Textilfirma seines Vaters. Privat steht er außerdem kurz vor der Verlobung mit Sibel: einer Diplomatentochter, die wie er zur westlich orientierten Oberschicht Istanbuls der 70er Jahre gehört.

Kurzum: alles scheint für den jungen Mann auf eine High-Society-Karriere hinauszulaufen. Würde ihm nicht eines Mittags unverhofft die 18jährige Boutique-Verkäuferin Füsun begegnen. Ein Zufallstreffen, das für Kemal zur Schicksalswende wird.

Moral oder privates Glück?

Denn ähnlich wie schon Flauberts Emma Bovary oder Tolstois Anna Karenina wird auch Pamuks Hauptheld und Ich-Erzähler von einer obsessiven Leidenschaft erfasst, die sich zum Liebeswahn steigert.

Kemal beginnt eine Affäre mit Füsun, obwohl er eigentlich entschlossen ist, Sibel zu heiraten. Ein klassisches Dilemma zwischen Herz und Kopf, das auch schon bei Flaubert und Tolstoi einen generellen Gesellschaftskonflikt symbolisierte: den Konflikt zwischen traditioneller Moral und individuellem Glücksanspruch.

Fähre auf dem Bosporus; Foto: AP
Pamuks neuer Roman "Das Museum der Unschuld" spielt im Istanbul der 70er Jahre.

​​Denn so amerikanisiert freiheitsliebend Pamuks Held einerseits auch auf den ersten Blick wirkt - so sehr fühlt er sich andererseits doch dem alten, patriarchalischen Ehrenkodex seiner türkischen Heimat verpflichtet.

Entsprechend verlobt sich Kemal tatsächlich mit Sibel. Was Füsun wiederum so sehr schockiert, dass sie nach der Feier spurlos verschwindet. Erst ein Jahr später findet der verzweifelte Kemal die verlorene Geliebte wieder: inzwischen mit einem anderen Mann verheiratet.

Orientalischer Männerstolz

Pamuk nimmt besonders die sexuelle Doppelmoral der feinen türkischen Gesellschaft aufs Korn, die sich nur vordergründig westlich locker gibt, in Wahrheit aber immer noch dem orientalisch-strikten Diktum anhängt, wonach Frauen als Jungfrauen in die Ehe gehen müssen.

Mit diesem islamischen Unschuldskult aufgewachsen, findet Kemal auch eine völlig andere Lösung für seinen Liebesschmerz als seine tragischen Vorgängerinnen des europäischen Romans. Statt Selbstmord zu begehen, macht er aus seiner unerfüllten Liebe eine Privatreligion. Und aus der verlorenen Geliebten kurzerhand eine Heilige.

​​Acht Jahre lang pilgert Kemal zu Füsuns Haus, um die Verheiratete beim Abendessen platonisch anzuhimmeln. Und alle Gegenstände, die Füsun in dieser Zeit berührt, werden für Kemal nun plötzlich zu Reliquien, die er in einem eigens eingerichteten "Museum der Unschuld" sammelt: vom Taschentuch bis zum Zigarettenstummel.

Den neuen Roman von Orhan Pamuk sollte man nicht vorschnell als Lobeshymne auf die Liebe an sich lesen. Denn wie alle Fanatiker ist auch Kemal ein zweifelhafter und manipulativer Charakter, der das Unglück der schließlich tödlich verunglückenden Füsun entscheidend mitverschuldet.

Seine Chronik liest sich darum wie das radikale Zeugnis eines Mannes, der – stellvertretend für viele moderne Türken - innerlich zerrissen scheint zwischen westlichem Freiheitskult und orientalischem Männerstolz.

Gisa Funck

© DEUTSCHE WELLE 2008

Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld, Hanser-Verlag 2008, 24.99 Euro

Qantara.de

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