Das Brot des Patriarchen

Erstmals ist der metaphernreiche Roman "Das Brot des Patriarchen" von Raduan Nassar auf Deutsch erschienen. Ein Buch, das mit patriarchalen Tabus bricht und Anspielungen auf Elemente christlicher und islamischer Kultur enthält. Ilja Braun hat den Roman gelesen.

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Raduan Nassar

​​"Verboten sind euch: eure Mütter, eure Töchter, eure Schwestern, ..." (Der Koran - Sure IV, 23)

"Es war einmal ein Hungriger", so beginnt die Fabel, die der Vater in Raduan Nassars Roman gern seiner Familie erzählt. Der Hungrige besucht einen reichen Mann, der ihn an einer leeren Tafel Platz nehmen heißt.

Mit seinem knurrenden Magen soll er sich die herrlichsten Speisen vor sein inneres Auge rufen, als stünden sie tatsächlich vor ihm auf dem Tisch. Und erst nachdem er sich durch mehrere Gänge des Menüs hindurchphantasiert hat, bekommt er tatsächlich etwas zu essen - als Belohnung für seine Geduld.

Verstoß gegen das Inzestverbot

Wenn ein Vater solche Geschichten am Mittagstisch erzählt, braucht er sich über weniges zu wundern. Schon gar nicht darüber, dass der 17jährige Sohn gegen die übermächtige Autorität aufbegehrt. Freilich ist das Aufbegehren des Ich-Erzählers André in "Das Brot des Patriarchen" besonders skandalös.

Er verstößt mit seiner Schwester Ana gegen das patriarchale Verbot schlechthin, das Inzestverbot. Unmöglich erscheint daraufhin sein Verbleib in der Familie. Trotzig verlässt er Haus und Hof der Eltern und verkriecht sich, gewärmt vom Alkohol, in einer schäbigen Landpension.

​​Seinem besonneneren Bruder gelingt es schließlich, André zur Rückkehr zu überreden. Und tatsächlich wird der verlorene Sohn, ganz biblisch, mit einem Fest empfangen. Als sich auf diesem Fest jedoch die Schwester Ana zu einem aufreizenden, erotischen Tanz hinreißen lässt, greift der Patriarch unvermittelt zur Sense. Mit Anas Tod findet der Kurzroman sein blutiges Ende.

Man darf sich dieses Buch des 1935 als Sohn libanesischer Eltern geborenen Brasilianers allerdings nicht als südamerikanisches Pendant zu Ian McEwans Inzestroman "Der Zementgarten" vorstellen. Vielmehr galt es bereits bei seinem ersten Erscheinen im Jahr 1975 als einzigartig, scheint es doch so wenig mit den literarischen Konventionen seiner Zeit verbunden, wie man es sonst nur von Autoren wie Kafka kennt.

Bildhafte und assoziationsreiche Sprache

In der brasilianischen Literatur der 70er Jahre war die dominante Strömung der sog. "wütende Realismus" - unter dem Begriff fasste man Autoren zusammen, die angesichts staatlicher Zensur versuchten, die Literatur als Gegenöffentlichkeit politisch nutzbar zu machen, oft mit journalistischen und sozialrealistischen Mitteln.

Nassar hingegen präsentiert dem Leser einen mitreißenden, atemlos voranstürzenden Sprachstrom von barocker Fülle. Nicht ohne Punkt und Komma, kein "stream of consciousness" also, vielmehr ein erstaunlich geschickt konstruiertes Gefüge verschiedener Erzählebenen.

Der metaphernreiche Roman enthält Anspielungen auf Elemente sowohl der christlichen als auch der islamischen Kultur. Er hat eine spürbare Tendenz zu Pathos ebenso wie zu euphorischem Entzücken. Nassar schreibt, anders gesagt, weder distanzierend noch ironisierend, und schon gar nicht bedient er sich jenes sterilisierten Vorzeigegestus, durch den eine Catherine Millet zur Trendsetterin geworden ist.

Denn natürlich dreht sich "Das Brot des Patriarchen" zu großen Teilen um Sexualität - wie könnte es anders sein bei einer Inzest-Geschichte. Das Aufbegehren des Erzählers gegen das patriarchale Tabu steht dabei für einen weit über die Liebe zur Schwester hinausgehenden Befreiungsdrang der Figur.

Andrés Gefühle zu seiner Schwester sind überbordende, entgrenzende, erinnern eher an eine surrealistische "amour fou" denn an eine tragische Bindung. Gleichzeitig aber ist es gerade die inzestuöse Liebe, die André nicht aus dem Schoß der Familie entlässt, die Kindheitserinnerungen zu Tage fördert und Regressionsphantasien anfacht:

"Es war ein Wunder, ganz besonders zu entdecken", heißt es im Roman, "dass wir in den Grenzen unseres Hauses uns selbst genügen und so das Vaterwort bekräftigen, nur im Schoß der Familie sei das Glück zu finden; es war ein Wunder, geliebte Schwester, und nicht zulassen werde ich, dass diese Fügung des Schicksals entzaubert werde."

Erst mit dem Tod der Schwester kündigt sich vage eine Lösung dieser Bindung an die Familie an, wenn auch in äußerst ambivalenter Weise. Die Familie ist nicht so sehr über den Tod des Mädchens bestürzt wie über den drohenden Zerfall ihres Zusammenhalts. Nicht das Opfer, sondern der Patriarch, der Vater wird bejammert.

Preisgekröntes Meisterwerk

"Das Brot des Patriarchen" ist großartige Literatur. Allerdings auch solche, die einen zeitgenössischen europäischen Leser befremden muss, schon allein wegen des schwierigen, von Satzbau und Bildlichkeit her im besten Sinne ungewöhnlichen Stils.

Unerlässliche Lektüre ist deshalb das kenntnisreiche Nachwort Berthold Zillys, das seiner flüssigen Übertragung aus dem brasilianischen Portugiesisch nachgestellt ist. Hier erfährt man auch, dass das Lebenswerk des Autors aus gerade einmal drei Büchern besteht.

Die vornehmlich aus einem Streitgespräch zwischen Frau und Mann bestehende Liebesnovelle "Ein Glas Wut" ist 1991 auf Deutsch erschienen und inzwischen vergriffen, ein Band mit Erzählungen steht noch aus. Mehr wird nicht kommen - Raduan Nassar hat das Schreiben aufgegeben und baut heute nur noch Getreide an.

"Das Brot des Patriarchen" indes hat nicht nur die wichtigsten brasilianischen Literaturpreise erhalten und sich in der Originalsprache bislang mehr als 100.000 Mal verkauft, sondern ist 2001 auch mit großem Erfolg verfilmt worden. Es sind dies keine guten Gründe dafür, das Buch zu lesen. Doch wer einmal damit angefangen hat, wird solche nicht lang schuldig bleiben.

Ilja Braun, © Qantara.de 2004

Das Brot des Patriarchen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Berthold Zilly, (Lavoura Arcaica), 2004, 120 Seiten, Suhrkamp Verlag