Der Untergang der "Titanic" auf dem Niger

Im multi-ethnischen Nigeria gelingt es kreativen Filmemachern, die eigene kulturelle Identität und westliche Einflüsse produktiv zu verbinden. Darüber sprach Ariana Mirza mit dem nigerianischen Regisseur und Produzenten Kabat Esosa Egbon.

Im multi-ethnischen Nigeria gelingt es kreativen Filmemachern, die eigene kulturelle Identität und westliche Einflüsse produktiv zu verbinden. Eine Marktstrategie, die nigerianische Filme in ganz Afrika zu Exportschlagern macht. Darüber sprach Ariana Mirza mit dem nigerianischen Regisseur und Produzenten Kabat Esosa Egbon.

Kabat Esosa Egbon, Foto: Stephan Schmidt
Kabat Esosa Egbon

​​Der Untergang der "Titanic" lockte vor einigen Jahren weltweit Millionen Zuschauer ins Kino. So auch in Nigeria. Doch in diesem afrikanischen Land belässt man es nicht beim bloßen Konsumieren importierter Kulturgüter.

Kurzerhand wurde das dramatische Szenario des Filmhits uminterpretiert und afrikanischen Verhältnissen angepasst. Schon wenige Wochen nachdem das westliche "Original" zu sehen war, konnte sich das Publikum die "nigerianische Variante" auf Video anschauen.

Eine Herangehensweise, die symptomatisch ist, für den unbeschwerten Umgang mit westlichen Kulturimporten. Während weltweit darüber diskutiert wird, wie die kulturelle Identität der einzelnen UN-Mitgliedsstaaten vor den Auswirkungen der Globalisierung geschützt werden könne, haben nigerianische Filmemacher einen eigenen Weg gefunden. Sie produzieren mit geringem Aufwand preisgünstige Videos, die in ganz Afrika Verbreitung finden.

"Wieso bewegt die sich so wie eine Weiße?"

"Für unsere Videoproduktionen greifen wir gute Film-Ideen aus dem westlichen Ausland gerne auf", erklärt der Regisseur und Produzent Kabat Esosa Egbon. Nur sei es so, dass sich die Menschen in Afrika nach wie vor besonders für Geschichten interessierten, die etwas mit ihrer eigenen Lebenswelt zu tun hätten.

"Was Equipment, Schnitttechnik, Dramaturgie und technische Effekte anbelangt, sind wir offen für Impulse", sagt der Filmemacher. Auf das Imitieren "westlichen Gebarens" bei nigerianischen Schauspielern reagierten die afrikanischen Zuschauer hingegen zumeist negativ.

"Wieso bewegt die sich so wie eine Weiße?" raune es da schon mal missbilligend durchs Publikum, sollte eine schwarze Darstellerin allzu offensichtlich den bekannten Hollywoodstars nacheifern.

Migranten als Protagonisten

Dabei genießt Nigeria seit einigen Jahren selbst den Ruf eines "afrikanischen Hollywoods". "Jedes populäre Kinogenre wird hier produziert", berichtet Kabat Esosa Egbon. Komödien, Thriller, Liebesgeschichten und Familiendramen finden gleichermaßen ihr Publikum. Doch so unterschiedlich die Filmformate auch sind, so zuverlässig begegnet man bestimmten Charakteren immer wieder.

Eine besonders beliebte Filmfigur ist der Emigrant, der mit neuen Verhaltensweisen in die nigerianische Heimat zurückkehrt. "Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass so viele von uns überall auf der Welt verstreut leben", meint Kabat Esosa Egbon.

Fast jede nigerianische Familie habe Erfahrungen mit Auswanderern in den eigenen Reihen. Deshalb würde die Figur des Emigranten besonders gern eingesetzt, sei es in der Rolle des Bösewichts, der Witzfigur, oder des Helden.

Integration der afrikanischen Lebenswelt

Im Videogeschäft sind die Auswanderer aber nicht nur als Filmcharaktere beliebt; sie tragen über professionelle und semi-professionelle Vertriebswege maßgeblich zur Verbreitung der nigerianischen Produktionen in der ganzen Welt bei.

Die konkrete Verbindung zur eigenen Lebenswelt scheint den afrikanischen Zuschauern offensichtlich sehr viel wichtiger zu sein als dem westlichen Publikum. Die nigerianischen Videos orientieren sich selbst in phantastischen Horror- oder Actiongenres stark am afrikanischen Alltagsgeschehen.

Traditionelle Aspekte wie Zauberei und Magie werden dabei ebenso selbstverständlich in die Filmhandlung integriert wie Autounfälle und Laptops.

"Natürlich verändert sich auch unsere Lebenswelt durch die Auswirkungen der Globalisierung", erklärt Kabat Esosa Egbon die filmische Symbiose aus Tradition und Moderne. Als sichtbarstes Beispiel des westlichen Einflusses nennt er Modetrends und Schönheitsideale.

"Bei uns tragen Männer traditionell eher selten Ohrringe, aber in letzter Zeit ist das zur Mode geworden. Du triffst immer mehr Männer mit Ohrschmuck. Solche Details finden sich dann auch im Film wieder."

Der junge Regisseur sieht die Veränderung der traditionellen Gesellschaft jedoch keinesfalls negativ, sondern als natürlichen Prozess. "Leben ist immer Wandel unterworfen." Und diese Entwicklung sei naturgemäß auch in den Filmsujets zu spüren.

Konflikte werden ausgeblendet

Auf der anderen Seite hüten sich nigerianische Filmemacher vor offener Gesellschaftskritik. Politische Aussagen oder Konflikte zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen wie den Yoruba, Igbo und Haussa werden kaum thematisiert, und wenn, dann niemals offensichtlich.

Eine ähnliche Zurückhaltung ist bei der Auseinandersetzung mit religiösen Fragen zu beobachten. "Es gibt bei uns keine Filme, die eine Religionsgruppe zugunsten der anderen diffamieren." So würde selbst in einem Film, der eine christliche Geschichte erzählt, stets vermieden, den Islam zu kritisieren, berichtet Kabat Esosa Egbon. "Wir möchten die Einigkeit stärken, nicht trennen. Deshalb vermeiden wir das Schüren von Konflikten."

Das Thema der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit wird also mit Vorsicht behandelt, ist aber kein grundsätzliches Tabu im nigerianischen Film. Interreligiöse Familiengeschichten oder "Love Stories", in denen sich ein junges Paar unterschiedlichen Glaubens ineinander verliebt, gehören sogar zum üblichen Repertoire.

Zumeist stehen dann ein strenger Vater oder missgünstige Neider dieser Verbindung im Wege. Solche religionsübergreifenden Liebesgeschichten gehen mal glücklich, mal traurig aus - ein dankbarer Stoff, der auch das Publikum in anderen afrikanischen Ländern anspricht.

Videomarkt unter den Stämmen aufgeteilt

Die nigerianische Videoindustrie hat sich im letzten Jahrzehnt parallel in allen Landesteilen entwickelt, wobei die muslimischen Haussa im Norden Nigerias häufiger speziell für den einheimischen Markt produzieren. Die vorwiegend christlichen Yoruba beherrschen hingegen den Videomarkt des Südens.

Die Igbo, die größtenteils einer Naturreligion anhängen, haben schon früh den internationalen Markt erschlossen. Ihre englischsprachigen Produktionen waren diejenigen, die zuerst in ganz Afrika, später in den USA und Europa Verbreitung fanden.

Auf die Frage, warum sich in keinem anderen afrikanischen Land so viele Filmemacher die neuen, preisgünstigeren Medien zunutze machen, fällt eine eindeutige Antwort schwer. "Viele der heutigen Filmschaffenden kommen, so wie ich auch, ursprünglich vom Theater", erzählt Kabat Esosa Egbon. Vielleicht liegt der Video-Boom in Nigeria tatsächlich in der regionalen Tradition des Wandertheaters begründet.

Seit Anfang der neunziger Jahre die ersten nigerianischen Filme auf den Markt kamen, hat sich die Zahl der Produktionen stetig erhöht. Derzeit werden landesweit ca. 20 Videofilme pro Woche gedreht. Das Budget ist dabei selten höher als 200.000 Naira, was ungefähr 1.200 Euro entspricht. Eine Summe, für die in Deutschland kaum 10 Sekunden Laufzeit eines Fernsehfilms produziert werden könnte.

Profit geht vor Kunst

Eine Merchandising-Industrie rund um die Filmstars hat sich noch nicht entwickelt. Einige Fanmagazine im Süden des Landes machen zurzeit den Anfang. Film als Marktchance zu betrachten, diese Sichtweise hat sich aber schon lange durchgesetzt.

Ebenso wie in den USA und Europa sind die Produzenten in Nigeria in der Regel Geschäftsleute, die weniger an Kunst und Kultur als an Profit interessiert sind. "Die könnten auch mit jeder anderen Ware Handel treiben", kommentiert Egbon trocken.

Ariana Mirza

© Qantara.de 2005

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