Die geraubten Mädchen

Im Wechsel mit den Stimmen der entführten Opfer der nigerianischen Boko Haram erklärt Wolfgang Bauer in seinem Sachbuch die Entstehungsgeschichte und soziopolitischen Hintergründe der islamistischen Terrorgruppe sowie die Rolle des korrupten Staates. Von Jutta Person

Von Jutta Person

Wer nach den nigerianischen Orten Duhu, Gubla oder Gulak sucht, wird auf Satellitenbildern zunächst einmal wenig erkennen können. Klickt man sich näher heran, taucht eine Straße auf, die sich durch spärlich bebautes Gelände zieht, flankiert von Streusiedlungen, die sich entlang der A13 aufreihen. Zoomt man sich heraus aus der Karte, wird irgendwann der Sambisa-Wald kenntlich: der Nordosten Nigerias, nahe der Grenze zu Kamerun. Damit hat man das geographische Terrain und die operative Basis der islamistischen Terror-Organisation Boko Haram umrissen, die Wolfgang Bauer in seinem so aufrüttelnden wie einfühlsamen Reportage-Band "Die geraubten Mädchen" beschreibt.

"Der Wald" heißt das erste Kapitel, denn in den sumpfreichen Sambisa-Wald wurden die Frauen und Kinder aus Duhu, Gubla und Gulak verschleppt, mit denen der Zeit-Reporter im Juli 2015 und Januar 2016 sprechen konnte. Sie wurden von Boko-Haram-Kämpfern entführt, zwangsverheiratet und misshandelt; dass ihnen die Flucht gelungen ist, bedeutet nicht, dass sie sich in Sicherheit befinden, denn Boko Haram wütet – nicht nur in den genannten Regionen – mit gesteigerter Gewalt.

Den Opfern zuhören

Dazu kommt, dass alle Frauen Familienangehörige, Freunde und Nachbarn verloren haben; dass sie unvorstellbare Grausamkeiten gesehen und erlitten haben. Boko Haram ist die Terrorgruppe, "die in den letzten Jahren am meisten Menschen getötet hat, mehr noch als der Islamische Staat. So tödlich sie ist, so wenig weiß man über sie", schreibt Bauer. Wie kann man aufklären über dieses Verbrechensregime, wie lässt es sich journalistisch fassen? "Den Terror können wir nur dann erfolgreich bekämpfen", so der Zeit-Reporter, "wenn wir seinen Opfern zuhören: den Frauen."

Buchcover "Die geraubten Mädchen. Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas" im Suhrkamp Verlag
Ein aufrüttelnder, gut recherchierter Reportage-Band: Wolfgang Bauer zeichnet nach, wie der „oberste Emir" Abubakar Shekau zunehmend an Einfluss und Terrain gewinnt, wie seine Propaganda wirkt, wie Boko Haram sich allmählich mit dem IS vernetzt und Kämpfer im Nahen Osten ausbilden lässt.

Es sind die eindrucksvollen Stimmen von Sadiya und Talatu, von Batula und Rabi, von Sakinah und Isa, von Clara und Lydia, die dieses Buch prägen und lange im Kopf der Leser nachklingen. Im ersten Kapitel sind es Sadiya und Talatu, Mutter und Tochter, die von ihrem Leben erzählen – vor, während und nach der Entführung durch Boko-Haram-Milizen.

Ihre Geschichte ähnelt derjenigen von tausenden von Frauen, die als Sklavinnen in den Sambisa-Wald verschleppt wurden, nachdem ihre Dörfer von den Truppen der Boko Haram erobert worden waren. Im Erzählmodus dieser Frauen gewinnen aber zugleich die individuellen Lebensläufe an Profil, man lernt das dörflich geprägte Leben der Protagonistinnen kennen:

Die Witwe Sadyia verkaufte Bohnenkuchen an einer Bushaltestelle in Duhu; ihre Tochter Talatu träumt davon, Ärztin zu werden. Auch die 41-jährige Batula und ihre Tochter Rabi waren monatelang in der Gewalt der Terroristen; als ihr Dorf eingenommen wurde, mussten sie mit ansehen, wie die Männer des Ortes enthauptet wurden. In den Sambisa-Wald verschleppt, wurden sie zwangsverheiratet und vergewaltigt. Der im Sambisa residierende Anführer der Gruppe, Abubakar Shekau, ließ die Frauen brutal misshandeln.

Die 2014 entführten Schülerinnen aus Chibok, deren Fall mit dem Aufruf "Save our girls" um die Welt ging, wurden von Boko Haram indoktriniert und mussten den neu hinzugekommenen Frauen Islam-Unterricht erteilen.

Jenseits von Sensationalismus und Insidertum

Im Wechsel mit den Stimmen der Frauen erklärt der Autor die Entstehungsgeschichte und die soziopolitischen Hintergründe der islamistischen Terrorgruppe; und auch dieses schwierige Unterfangen – eine von unfassbarer Brutalität gezeichnete Welt jenseits von Sensationalismus und Insidertum darzustellen – meistert Bauer hervorragend. Entscheidend, so der Reporter, sei in der Entwicklung von Boko Haram die Schwäche des nigerianischen Staates gewesen.

Die omnipräsente Korruption und die aus ihr hervorgehende Gesetzlosigkeit hätten es möglich gemacht, dass die Versprechungen radikaler Prediger auf fruchtbaren Boden fielen: mithilfe der Scharia wieder geordnete Verhältnisse herzustellen. "330.000 Polizisten gibt es offiziell in Nigeria, doch fast ein Drittel ist ausschließlich damit beschäftigt, hohe Politiker und reiche Geschäftsleute zu schützen, die ihnen Zulagen auf ihre Löhne zahlen."

Das Regime unter dem Präsidenten Goodluck Jonathan war von der Bereicherung der Eliten geprägt; auch der seit 2015 amtierende Präsident Buhari hatte zwar Maßnahmen gegen Korruption angekündigt, die Hauptlast im Kampf gegen Boko Haram, so Bauer, "tragen jedoch nach wie vor benachbarte Staaten wie der Tschad, Niger und Kamerun."

Dass sich Boko Haram im Laufe der 2010er Jahre von einer fundamentalistischen Guerillatruppe in eine regelrechte Armee verwandeln konnte, lag auch an einer Regierung, die sich lange kaum um den Norden des Landes gekümmert hatte. Auch die spät einsetzenden militärischen Maßnahmen gegen Boko Haram waren zweifelhafter Natur. Die befragten Frauen berichten von Kampfjets, die ihre Dörfer ohne Rücksicht auf Zivilisten zerstörten, und davon, dass sie von Boko Haram als menschliche Schutzschilde missbraucht wurden.

"Die Globalisierung hat das Außen abgeschafft"

Bauer zeichnet nach, wie der "oberste Emir" Abubakar Shekau zunehmend an Einfluss und Terrain gewinnt, wie er sich als Hexer inszeniert, wie seine Propaganda wirkt, wie Boko Haram sich allmählich mit dem IS vernetzt und Kämpfer im Nahen Osten ausbilden lässt.

Nicht zuletzt diese voranschreitende Internationalisierung des Terrorismus machtdas Phänomen Boko Haram zu einer stetig wachsenden Bedrohung, die auch nicht von kurzfristigen Rückeroberungen aufgehalten werden kann. Wolfgang Bauer, dessen Gesprächsprotokolle und Hintergrundberichte von den ausdrucksstarken Schwarzweißporträts des Fotografen Andy Spyra ergänzt werden, belegt mit seinem Reportage-Band, wie existentiell notwendig das Hinschauen geworden ist.

"Die Globalisierung hat das Außen abgeschafft. Viele von uns haben das noch nicht verstanden. Oder wollen es nicht verstehen, aus Furcht. In den letzten Jahren ist das Innen mit dem Außen verschmolzen." Vor allem aber sind es der Lebensmut und die Stärke dieser Frauen, die – auch wenn es irrwitzig anmutet beim Ausmaß der Gräuel – am Ende doch noch so etwas wie Hoffnung aufkommen lassen.

Jutta Person

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Wolfgang Bauer/ Andy Spyra (Illustrator): "Die geraubten Mädchen. Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas", Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 189 Seiten, ISBN 978-3-518-42538-1