Wie kommt die Türkei nach Europa?

Der Ende 2006 von der EU-Kommission vorgestellte Fortschrittsbericht zum EU-Beitritt der Türkei identifiziert sowohl Leistungen als auch Versäumnisse der Türkei. Über Hintergründe und Perspektiven der Verhandlungen berichtet Andreas Marchetti.

Der Ende 2006 von der EU-Kommission vorgestellte Fortschrittsbericht zum EU-Beitritt der Türkei identifiziert sowohl Leistungen als auch Versäumnisse der Türkei. Über Hintergründe und Perspektiven der Verhandlungen berichtet Andreas Marchetti.

EU- und Türkeiflaggen vor der Nur-i Osmaniya-Moschee in Istanbul; Foto: dpa
Nur wenn es der Türkei gelingt, gute Gründe – für sich, aber auch für die EU – anzuführen, die für eine türkische EU-Mitgliedschaft sprechen, dürften die Chancen auf deren Verwirklichung steigen, glaubt Andreas Marchetti

​​Die Kommission richtet in dem am 8. November 2006 vorgestellten Fortschrittsbericht deutliche Worte der Ermahnung an die Türkei. Mehr noch, aufgrund der kontinuierlichen Weigerung Ankaras, zypriotischen Schiffen oder Flugzeugen Zugang zu türkischen Häfen bzw. Flughäfen zu gewähren, geschweige denn das EU-Mitglied Zypern anzuerkennen, gab sie kurz darauf die Empfehlung ab, die Beitrittsverhandlungen teilweise auszusetzen.

Diese von den EU-Mitgliedstaaten angenommene Empfehlung besagt, acht Kapitel, die inhaltlich von der Nichterfüllung des Zusatzprotokolls zum Ankara-Abkommen betroffen sind, bis auf weiteres nicht zu öffnen.

Obwohl die Kommission um Objektivität und Ausgleich bemüht war, hat diese neuerliche krisenhafte Entwicklung weiter polarisiert – zwischen Gegnern und Befürwortern eines türkischen Beitritts und zwischen der EU und der Türkei. Diese zunehmende Polarisierung und auch Emotionalisierung des Themas zeigt erneut, dass es bei einem möglichen Beitritt nicht nur um technisch-rechtliche Aspekte geht, sondern auch um ideell-kulturelle.

Dieser doppelten Anforderung müssen sich letztlich alle Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft stellen. Da der Türkei derzeit nicht nur aus technisch-rechtlichen Gründen, sondern – schenkt man aktuellen Umfragen Glauben – auch in ideell-kultureller Hinsicht die Aufnahme in die EU verwehrt bliebe, stellt sich die Frage, was Ankara ändern kann oder sogar muss, um tatsächlich Mitglied in der EU werden zu können.

Problem Zypern

Das in den letzten Wochen und Monaten dominierende Thema betrifft das Verhältnis der Türkei zum EU-Mitglied Zypern. Unabhängig davon, wie die Ereignisse des Jahres 2004 – Annahme des Annan-Plans durch die türkischen, Ablehnung durch die griechischen Zyprioten – zu bewerten sind, der gegenwärtige Zustand ist zunächst als gegeben hinzunehmen.

Grenzübergang auf Zypern; Foto: Larissa Bender
Grenzübergang zwischen dem griechischen und dem türkischen Teil Zyperns

​​Entsprechend stellt sich die EU auf den vermeintlich einfachen aber nicht unbedingt zur Lösung des eigentlichen Problems beitragenden Standpunkt, die Türkei müsse Zypern in irgendeiner Form anerkennen. Der angebotene "Kompromiss" sieht von einer völkerrechtlichen Anerkennung zunächst ab, fordert aber für Zypern den Zugang zu türkischen Häfen und Flughäfen.

Nach den Präsidenten- und Parlamentswahlen in diesem Jahr wird sich die Türkei allmählich in die von der EU vorgegebene Richtung bewegen müssen, will sie die Beitrittsverhandlungen nicht in einer Dauerkrise versanden lassen.

Anpassung an europäische Standards

Damit einher geht der Hauptbestandteil der "Verhandlungen": die Übernahme des acquis communautaire und dessen Implementierung.

Die Türkei hat dem Kommissionsbericht zufolge hier bereits einige Fortschritte vorzuweisen, auch wenn ihr noch viele Anpassungen bevorstehen. Sie könnte ihre europäische Perspektive aber insgesamt verbessern, indem sie in weniger problematischen oder strittigen Bereichen wieder ein höheres Reformtempo aufwiese und damit nachdrücklich ihre Reformbereitschaft signalisierte.

Grundlegend wird sein, dass Ankara die Umsetzung und Durchsetzung europäischer Standards in allen Landesteilen sicherstellt, da jegliche Abweichung besondere Aufmerksamkeit erfahren wird.

Im weiteren Anpassungsprozess wird die Neuordnung der zivil-militärischen und zivil-religiösen Beziehungen spezielle Anstrengungen erfordern. Mit der Reform des Militärs bezüglich seiner politischen Befugnisse und Möglichkeiten ist unmittelbar die Frage nach dem türkischen Staatsverständnis oder zumindest dem Selbstverständnis einflussreicher Eliten gestellt.

Die Türkei ist daher gehalten, die Umstrukturierung des Militärs gemeinwesen- und EU-verträglich zu gestalten. Dem Militär müssten folglich neben dem Schutz der territorialen Integrität im Sinne eines Ausgleichs weitere Aufgaben zuteil werden.

Zurückhaltung in Religionsfragen

An der Schnittstelle zur EU wäre hierbei an eine stärkere Einbindung in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu denken. Auf zivil-religiöser Seite muss eine deutlichere Trennung von Religion und Staat erfolgen, indem sich auch der türkische Staat von seinem Dirigismus in Religionsfragen verabschiedet.

Papst Benedikt XVI. in der Blauen Moschee in Istanbul; Foto: AP
Papst Benedikt XVI. in der Blauen Moschee in Istanbul

​​Von religiösen Gemeinschaften die Respektierung der Werte und Normen sowie die Akzeptanz eines säkularen Staates einzufordern, widerspricht dem nicht.

Zudem ist in religiösen Belangen Reziprozität zu gewährleisten – die Behinderung der Religionsausübung nicht-muslimischer Glaubensgemeinschaften in der Türkei spielt gerade den Gegnern eines Türkeibeitritts in die Hände, wobei der Papstbesuch im vergangenen Jahr hier neue Ansatzpunkte zu einem Ausgleich liefern kann.

Gerade ideell-kulturelle Themen bzw. deren öffentliche Behandlung offenbaren, wie unterschiedlich die Diskurse in der EU und der Türkei geführt werden. Daher wäre die türkische Führung gut beraten, nicht nur den nationalen – und bisweilen nationalistischen – Diskurs im eigenen Land zu beachten und zu bedienen, sondern auch den europäischen zunehmend zu berücksichtigen.

Dies impliziert die – auch seitens der EU einzufordernde – stärkere Respektierung der Empfindlichkeiten des jeweiligen Partners.

"Gründe für Beitritt darlegen"

Für eine erfolgreiche Fortführung des Verhandlungsprozesses wird es zudem darauf ankommen, nicht zum Gefangenen von Einzelfragen zu werden – hierzu zählt letztlich auch die Zypernproblematik:

Die EU beharrt auf einer unilateralen türkischen Anerkennung Zyperns, während die Türkei durch ihre konsequente Nichtanerkennungspolitik nicht nur die Beitrittsverhandlungen aufs Spiel setzt, sondern zumindest indirekt auch ihrerseits die Isolation Nordzyperns verlängert.

Dossier: Türkei und EU - Über die Grenzen Europas

EU- und Türkeiflagge

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Schließlich ist damit zu rechnen, dass in Folge einer wenigstens faktischen Anerkennung Zyperns auch die Isolation Nordzyperns in absehbarer Zeit aufgehoben würde – selbst wenn die EU jeden diesbezüglichen Zusammenhang bestreiten würde.

Anstatt einzelne Themen emotional zu überfrachten, müssten die Gründe für den Beitrittswunsch deutlicher gemacht werden. Das häufig angeführte Argument von einem seit 1963 bestehenden "Anspruch" auf Mitgliedschaft ist sowohl in der EU als auch in der Türkei als Begründung auf Dauer unzureichend.

Nur wenn es der Türkei gelingt, gute Gründe – für sich, aber auch für die EU – anzuführen, die für eine türkische EU-Mitgliedschaft sprechen, dürften die Chancen auf deren Verwirklichung steigen. Nach derzeitigem Stand steht die Öffentlichkeit dem Ansinnen mehrheitlich ablehnend gegenüber.

Sufenweise Integration

Wirkliche Anstrengungen, dies zu ändern, hat die Türkei noch nicht unternommen. Mit der Notwendigkeit, neben der eigenen auch die europäische Öffentlichkeit als wichtigen Faktor des Prozesses zu begreifen, erscheint es darüber hinaus geboten, türkischstämmige Gemeinschaften innerhalb der EU in die Beitrittstrategie einzubinden, schließlich sind es gerade diese, die das Bild der Türkei in der EU prägen und damit über deren europäische Perspektive mitentscheiden.

Bei insgesamt noch vielen offenen Punkten und zahlreichen Fragezeichen hinter Ankaras europäischer Perspektive könnte für beide Seiten das zunehmend in die öffentliche und damit politische Debatte vordringende Konzept der abgestuften Integration einige gegenwärtige Dilemmata überwinden helfen:

Die Beitrittsperspektive bliebe gewahrt, aufgrund einer stufenweisen Integration könnte aber das Spannungsverhältnis zwischen den im Verhandlungsrahmen gegebenen Alternativen - Vollmitgliedschaft oder Beibehaltung des status quo - aufgelöst werden.

Schließlich hat die EU bei allen derzeitigen Problemen im bilateralen Verhältnis ein grundlegendes – z.B. strategisches oder energiepolitisches – Interesse an eng(er)en Beziehungen zur Türkei.

Lediglich die Frage nach deren endgültiger Ausgestaltung ist derzeit zwischen den maßgeblichen politischen Strömungen strittig – auch dies sollte im Auge behalten werden, um einer weiteren Polarisierung vorzubeugen.

Andreas Marchetti

© Qantara.de 2007

Andreas Marchetti ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Bonn

Qantara.de

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