Dichtung und Wahrheit auf Kurdisch

Bachtyar Ali, der wohl bekannteste zeitgenössische Schriftsteller und Poet des autonomen irakischen Kurdistan, hat jüngst einen großen Roman über die Kunst und Versöhnung geschrieben. Von Stefan Weidner

Von Stefan Weidner

Wie ein Phönix aus der Asche der Vergessenheit im Exil ist der kurdische Schriftsteller Bachtyar Ali im letzten Jahr mit seinem Roman "Der letzte Granatapfel" im deutschsprachigen Raum zur plötzlichen Bekanntheit aufgestiegen.

Das Buch schildert die Suche eines aus der Verbannung entlassenen Vaters nach seinem Sohn und ist zugleich eine Reise durch die versehrten Seelenlandschaften Kurdistans, durch ein von Krieg, Bürgerkrieg und Diktatur zerstörtes Land. Bachtyar Ali gelang, woran viele Autoren aus Krisenregionen scheitern: Die Gewalt zu schildern, ohne ihrer Ästhetik zu erliegen oder sentimental zu klingen. Die mündliche Erzähltradition, die Mythen und eine an den magischen Realismus erinnernde Phantasie bilden die Ingredienzien seiner Werke.

Der 1966 in Sulaimaniya im kurdischen Teil Nordiraks geborene Autor, der seit den neunziger Jahren in Deutschland im Exil lebt, schreibt auf Sorani, der südöstlichen Variante des Kurdischen, die anders als das in der Türkei gesprochene Kurmandschi mit arabischen Buchstaben geschrieben wird. Kaum zehn Millionen Menschen verständigen sich in dieser Sprache, viele von ihnen sind Analphabeten.

Buchcover Bachtyar Ali: "Die Stadt der weißen Musiker" im Unionsverlag
Bachtyar Alis Bücher fußen auf der großen orientalischen Erzähltradition und schildern zugleich auf poetische Weise das Schicksal der irakischen Kurden. Anfang September hatte der renommierte irakisch-kurdische Autor den Nelly-Sachs-Literaturpreis der Stadt Dortmund erhalten.

Trotzdem ist Bachtyar Ali in seiner Heimat eine Berühmtheit, und er kann von seinem Schreiben leben, obwohl es kaum Übersetzungen in westliche Sprachen gibt. Es existiert nämlich keine Literaturübersetzer aus dem Sorani. Die beiden Romane, die es von Bachtyar Ali bislang in die deutsche Sprache geschafft haben, sind von kurdischen Lesern seiner Literatur aus purer Begeisterung für diese Werke übersetzt worden. Im Fall des jetzt erschienen Romans "Die Stadt der weißen Musiker" wurde diese Übersetzung gemeinsam mit dem Autor und einem Verlagslektor überarbeitet. Das Ergebnis ist beeindruckend.

Ein kurdischer "Doktor Faustus"

"Die Stadt der weißen Musiker" hat alle Qualitäten des Vorgängerromans und bestätigt den Eindruck, dass es sich bei Bachtyar Ali um eine Ausnahmeerscheinung in der zeitgenössischen Literatur handelt, ein Autor, dessen Ecken, Kanten und erzählerische Verrücktheiten von keinem Literaturbetrieb abgeschliffen worden sind, und der sich um die Erwartungen und Lesegewohnheiten zumal des westlichen Publikums nicht schert.

Will man das Buch mit einem Werk der deutschen Literatur vergleichen, so fällt einem nur Thomas Manns "Doktor Faustus" ein. Aber wie anders, wie viel lebendiger und zugleich trauriger ist dieser kurdische Doktor Faustus!

Die Stadt der weißen Musiker ist ein Künstlerroman, ein Roman über Literatur und Musik, Dichtung und Wahrheit angesichts einer unmenschlichen Welt. Aber es ist auch ein Roman über die Liebe, die Gerechtigkeit, ein Epitaph für die Opfer der kurdischen Kriege und ein Manifest für die Kraft der Poesie und des Lebens.

Der Autor Ali Scharafiar, das alter ego von Bachtyar Ali, wird damit beauftragt das Leben von Dschaladati Kotr aufzuzeichnen, einem einfachen Flötenspieler, der im Lauf seines Lebens zu einem Mythos geworden ist. Das Buch wird, kapitelweise abwechselnd, von Dschaladati und von Ali Scharafiar erzählt. Und natürlich streiten sich die beiden darüber, wie diese Geschichte am besten zu erzählen ist, wahr und nüchtern oder bedeutungsvoll und poetisch.

Dem Tod von der Schippe gesprungen

Von den Häschern Saddam Husseins beinah umgebracht, wird Dschaladatis ausgerechnet von einem der schlimmsten Mörder gerettet. Und fast gelingt es diesem auch, mit Hilfe des Flötenspielers seine Taten zu sühnen. Die Reise im Kopf des Mörders und der Privatprozess, in dem alle überlebenden Opfer ihren Henker richten sollen, zählt zu den bewegendsten Szenen des Buchs und ist eine Lektion über die Möglichkeiten von Versöhnung.

Dem Tod von der Schippe gesprungen, stellt sich heraus, dass Dschaladiti Kotr in der Lage ist, zwischen den Sphären von Leben und Tod, Jenseits und Diesseits, idealer und wirklicher Welt, Poesie und Realität hin und her zu wechseln. Er ist zugleich Phönix und Pan, ein Nichts und ein Erlöser, ein mythisches Zwischenwesen, dabei so realistisch geschildert, dass diese Erkenntnis erst langsam im Leser – und in Dschaladati selbst – heranreift.

Bachtyar Ali ist ein Erzähler, der mit allen Wassern gewaschen ist: Denen der Literatur und Literaturtheorie der Moderne, aber auch denen aus der ältesten, mythischen Quelle aller Literatur, dem Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, um Geschichte zu erzählen, Sinn zu stiften. "Lange bevor der Mensch Politik betrieben hat, hat er Geschichten erzählt. Lange bevor er Städte gründete und Imperien errichtete, war er ein erzählendes Wesen."

Dschaladati Kotr, der Flötenspieler und Protagonist aus "Der Stadt der weißen Musiker" wird auch Qaqnas genannt, der orientalische Name für den Phönix. Mit Bachtyar Alis neuem Roman erhebt sich der Glaube an Kunst und Literatur aus der Asche unserer Phantasielosigkeit und fliegt mit einem kurdisch bunten Federkleid durch die Herzen der wiederverzauberten Leser.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2017

Bachtyar Ali: "Die Stadt der weißen Musiker", Roman aus dem Sorani von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Unionsverlag Zürich 2017, 425 Seiten, ISBN 978-3-293-00520-4.