Die Kunstwüste blüht

Die DNA der Kunst ist nicht mehr nur westlich: Die Frühlingsausstellungen im arabischen Wüstenstaat Sharjah zeigen eine ungeahnte Vielfalt. Einzelheiten von Georg Imdahl

Von Georg Imdahl

Der junge Mann in der Metro in Dubai greift uns freundlich, aber bestimmt in den Arm. Sie können hier nicht stehen, Mister. Wie bitte? Diese Hälfte des Abteils ist nur für Frauen und Kinder. Wir schauen in lächelnde Gesichter von Frauen, die hier tatsächlich, bis auf uns, ganz unter sich sind, und sehen wenige Schritte weiter eine Bodenmarkierung für die Geschlechtertrennung.

Je ein Waggon pro Fahrt hat ein solches Abteil, das weiblichen Passagieren die Tuchfühlung mit Männern erspart. Für diese wiederum gilt bei Zuwiderhandlung eine Strafandrohung von hundert 100 Dirham, immerhin etwa fünfundzwanzig Euro – die auch dann fällig werden, wenn man hier zu offensichtlich Kaugummi kaut. Gut möglich, dass die optionale Geschlechtertrennung im Personennahverkehr auch in anderen kulturellen Breiten ein Modell wäre, das von Frauen begrüßt würde.

Es sind diese kulturellen Unterschiede, die den Besuch in Arabien interessant machen. Im Nachbaremirat Sharjah, andere Sitten auch hier, ist der Genuss von Alkohol untersagt, kein Prosecco, kein Wein also auch bei den Empfängen und Dinners des "March Meetings", das die Sharjah Art Foundation jährlich ausrichtet – wobei man nicht den Eindruck gewann, dass sich jemand unter den Tagungsteilnehmern an der Prohibition gestört hätte. Fühlte sich eher nach Avantgarde an.

Andere rote Linien hingegen muss man beklagen, wie es auch die Sprecherin eines alternativen Filmclubs in Dubai auf einem Podium getan hat. "Alle gezeigten Filme müssen wir behördlich absegnen lassen. Das bringt uns in eine prekäre Existenz."

Gestaltung der Lebensrealität

Hoor Al Qasimi, Präsidentin der staatlichen Sharjah Art Foundation, begegnet dem neuralgischen Stichwort Zensur lakonisch mit dem Hinweis auf die bestehende Rechtsordnung: die Verunglimpfung von Religionen, Blasphemie und Pornographie seien nun einmal illegal. Punkt.

Dubai Burj Khalifa mit Lichtshow, Foto: dpa/picture-alliance
So wenig sich das Emirat Sharjah als urbane Glitzerwelt präsentiert wie Dubai rund um den Burj Khalifa, das architektonische Meisterwerk von Adrian Smith, so wenig trumpft die Kunststiftung mit Glamour und touristischer Attraktion auf.

Und stellten derzeit ohnehin nicht "wirkliche Topics" in der Debatte dar, es gehe heute doch vielmehr um politische Fragen und eine konkrete Gestaltung der Lebensrealität, sagt die 1980 geborene Künstlerin und Kuratorin, die in zahlreichen Vorständen von Institutionen wie dem PS1 in New York oder den Berliner Kunstwerken sitzt und daher natürlich weiß, dass die uneingeschränkte Äußerungsfreiheit zum Kernbestand zeitgenössischer Kunst zählt.

Die 2002 gegründete Sharjah Art Foundation trägt ihre Handschrift – eine Kopie westlicher Muster ist darin nicht vorgesehen, auch wenn der gerade eröffnete Louvre im Emirat Abu Dhabi mit seinem spektakulären Museumsneubau fraglos ein neues Publikum in der Region generiere.

So wenig sich das Emirat Sharjah aber als urbane Glitzerwelt präsentiert wie Dubai rund um den Burj Khalifa, das architektonische Meisterwerk von Adrian Smith, so wenig trumpft die Kunststiftung mit Glamour und touristischer Attraktion auf.

Sie wolle die Geschichte des Landes durch die Augen der Künstler wahrnehmen und "kämpfe gegen die Gentrifizierung", so die Direktorin, die mit kluger Hand auch die Geschicke der 1993 gegründeten Sharjah Biennale leitet.

Für die akute Krise der westlichen Gesellschaften und Demokratien – Al Qasimi nennt Nationalismus und Rassismus als wesentliche Symptome – hat die Tochter des seit 1971 regierenden Sultan Bin Muhammad Al Qasimi eine einfache Erklärung: "Die DNA des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr westlich."

"Koloniale Konstruktionen"

Dieser Befund sollte sich auch in dem dichten Tagungsprogramm widerspiegeln, in dem Künstler, Architekten, Musiker, Filmemacher und Kulturhistoriker die Ansprüche und Einflussmöglichkeiten des "Global South" formulierten und die Überwindung eines kolonialen Denkens forderten, das noch immer ungebrochen und wirksam sei.

Die Situation stelle sich heute sogar noch schwieriger dar als in den siebziger Jahren, proklamierte der Bildhauer Rasheed Araeen, Autor des "Black Manifesto" von 1975. Die "koloniale Ordnung" sei damals noch offensichtlicher gewesen als heute; inzwischen feierten zwar Künstler aus Afrika und Asien Erfolge auf der ganzen Welt, kaschierten damit aber ungewollt die fortbestehenden Schieflagen in den Machtverhältnissen.

Wenn ein chinesischer Künstler den Mangel an Demokratie in China anprangere, werde er im Westen zum Star, die Probleme in China blieben aber dieselben. "Schwarz" und "Weiß", so der 1935 in Karatschi geborene, seit Langem in London lebende Minimal-Künstler, seien politische Zuschreibungen und "koloniale Konstruktionen". Wie sie sich auflösen ließen, bekannte der Künstlerveteran, "weiß ich nicht".

Auf dem Symposium rückten Denker der Entkolonialisierung wie Frantz Fanon oder Édouard Glissant in den Vordergrund, forderten Redner wie Manthia Diawara angesichts der massenhaften Migration – die es schon immer gegeben habe – das Recht auf einen Habitus, der nicht immer gleich dem "westlichen Ideal der Transparenz" zu entsprechen habe.

Es müsse doch möglich sein, dass Menschen sich etwas Rätselhaftes bewahren könnten, ohne dadurch automatisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Der 1953 in Mali geborene, an der New York University lehrende Komparatist beschwor die Bedeutung der afroamerikanischen Kultur für die globale Jugend: Die teile sich mehr und mehr durch das gesprochene Wort mit, was tiefgreifende Folgen für die Schriftsprache zeitigen werde.

"Typisch westlich" nennt Diawara die Debatte um Kunstwerke von Dana Schutz und Sam Durant, mithin darüber, wer für wen das Wort ergreifen dürfe. "Gebt doch einfach allen die Möglichkeit, für sich selbst zu sprechen!", fordert Manthia.

Aus der Video-Installation "Ride the Caspian" von Bahar Behbahani und Almagul Menlibayeva aus dem Jahr 2011; Foto: Sharjah Art Foundation Collection
Aus der Video-Installation "Ride the Caspian" von Bahar Behbahani und Almagul Menlibayeva aus dem Jahr 2011

Belebende Akteure

In einer geschickten Auswahl an Sprechern grundierte das "March Meeting" solche – bisweilen emphatisch vorgetragenen – Postulate, indem sie Akteure zu Wort kommen ließ, die in lokalen Aktivitäten ihre jeweiligen Kunstszenen in Amman, Brisbane und Kairo, in Karatschi, Lima, Mexiko-Stadt und Bombay beleben. In mancher Hinsicht fühlte man sich in Sharjah an die globale Agenda der zurückliegenden Documenta 14 erinnert.

Das Themenspektrum eröffnete sich von der Bedeutung des Künstlerbuchs über die architektonische Ausgestaltung von Refugee-Camps in Malaysia bis zur Erkundung von Freiflächen in Beirut, die für Kinder genutzt werden könnten. Rund eine Million Syrer sind in den Libanon geflohen, um als Bauarbeiter die dortigen Kriegszerstörungen zu beheben: Von diesem absurden Kreislauf handelt der Dokumentarfilm "Taste of Cement", den Mohammad Ali Atassi als Direktor der syrischen Plattform Bidayyat vorstellte und der im Frühjahr in die hiesigen Kinos kommen soll.

Eine vorbildlich eingerichtete Schau mit Werken der stiftungseigenen Sammlung – darunter Videos und Installationen von Halil Altindere, Naeem Mohaiemen und Raeda Saadeh – überdauert das Meeting ebenso wie ein Bündel umfangreicher monografischer "Spring Exhibitions". Sehenswert die Retrospektiven auf die Werke der Ägypterin Anna Boghiguian und der Französin Zineb Sedira; einen Sonderfall zwischen den Kulturen liefert die Ausstellung von Muhammad Ahmed Ibrahim.

Skulpturen aus Pappmaché

Ibrahim wurde 1962 in Khor Fakkan in den Vereinigten Arabischen Emiraten geboren, wo er noch heute lebt, er gilt als einer von fünf Pionieren der Konzeptkunst in der Region. Als Künstler ist der studierte Psychologe Autodidakt.

Seine schwarzweißen Objekte und Bilder im Schachbrettmuster wirken auf die westliche Wahrnehmung wie eine Appropriation Art der jüngeren europäisch-amerikanischen Moderne, man würde sich nicht wundern, auf eine solche Position in Bob Nickas' Anthologie "Painting Abstraction" zu treffen. Ibrahim, der dem Publikum in wallender Kandura und mit Gutthra auf dem Haupt entgegentritt, gibt jedoch an, diese Kunst nicht zu kennen.

Er sei von den Naturmaterialien seiner ländlichen Umgebung inspiriert, gibt er zu seinen aus Pappmaché geformten Skulpturen an. Auch gegenständliche Sujets finden sich bei ihm in einer Bilderreihe mit Sitzenden, die als Torso gegeben sind und in quasi naiver Malerei das serielle Prinzip durchdeklinieren.

Jene Verunsicherung, wo wir ein Œuvre wie dieses letztlich verorten sollen, zählt zu den nachwirkenden Erfahrungen des Sharjah Meetings. Solche Irritationen sind stimulierend, und man dürfte sie in Zukunft wohl noch häufiger erleben, wenn wir uns mit den Ansprüchen des "Globalen Südens" konfrontiert sehen.

Georg Imdahl

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2018