Bruch mit Stereotypen und Vorurteilen

Mit der Ausstellung "Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung" eröffnet das Jüdische Museum Berlin überraschende und vielseitige Einblicke in die Bedeutung eines Rituals, über dessen religiöse und kulturhistorische Hintergründe hierzulande wenig bekannt ist. Igal Avidan hat die Ausstellung besucht.

Von Igal Avidan

Sechs nackte Männerfiguren empfangen den Besucher gleich am Eingang. Sofort fällt der Blick auf die sechs Glieder, denn die Skulpturen stehen vis-à-vis auf einer Ablagefläche aus Metall, in der Form eines Messers. Der ausgestellte griechische Knabe, der die Hände hochhält, ist hier ein Außenseiter, weil er unbeschnitten ist. Eine verkehrte Welt?

Geht man weiter durch die Ausstellung, wird man für einen Moment stutzig beim Anblick einer Weltkarte, die deutlich werden lässt, dass in Afrika, dem Nahen Osten, in Nordamerika und Australien die meisten Männer ihre Vorhaut entfernen lassen. Insgesamt wird jeder dritte Mann weltweit beschnitten.

Streitfall Beschneidung

2012 stufte das Landgericht Köln die rituelle Beschneidung als Körperverletzung ein. Dieses Urteil löste eine große Debatte über die Legalität der rituellen Beschneidung Minderjähriger aus. Diese wurde entweder juristisch – Religionsfreiheit versus Kinderschutz – oder medizinisch geführt, zum Beispiel ob die Beschneider fachmännisch ausgebildet seien.

"Auf die religiöse und rituelle Bedeutung der Beschneidung ging man dabei kaum ein", sagt Cilly Kugelmann, Programmleiterin des Jüdischen Museums Berlin. "Das hat mich auf die Idee gebracht, eine Ausstellung zu machen, die sich in erster Linie mit den theologischen Begründungen der Beschneidung befasst."

Der doppeldeutige Titel der Ausstellung "Haut ab" nimmt Bezug sowohl auf die Haut, die abgeschnitten wird, als auch auf die jüdischen und muslimischen Stimmen in Deutschland, die die Beschneidungsdebatte als eine Aufforderung empfanden, wenn sie auf dieses jahrtausendealte Ritual der Beschneidung bestehen, gefälligst aus Deutschland zu verschwinden.

Diese Ausstellung zu einem solch emotionsgeladenen Thema bemüht sich um Sachlichkeit und Nüchternheit, nicht zuletzt durch die Architektur: dunkelgraue Wände und Säulen in den Farben Silber, Gold und Kupfer sind dort überall präsent. Die Gestaltung verbindet hier nicht nur Juden und Muslime, sondern auch Christen. Auf einem runden blauen Podest, das sich als Ausstellungsfläche durch drei Räume zieht, wird das Beschneidungsritual in den drei monotheistischen Religionen durchwertvolle Objekte präsentiert und durch Tafeltexte erklärt.

Einblicke in die verschiedenen Beschneidungszeremonien

Im jüdischen Abschnitt zeugen die verschiedenen rituellen Gegenstände und Schriften von den vielen Bräuchen in Zusammenhang mit Beschneidungen, die aber alle am achten Tag nach der Geburt des Knaben und durch einen traditionellen Beschneider (Mohel) durchgeführt werden. Ein mit hebräischen Segenssprüchen gravierter vergoldeter Doppelbecher aus Nürnberg informiert über den Ablauf der Beschneidung. In den einen Becher tröpfelt der Beschneider ein wenig Blut des Knaben; aus dem anderen trinkt er den Wein nach dem entsprechenden Segensspruch.

Verschiedene Amulette aus Griechenland zeigen, wie sehr sich jüdische Eltern um das Wohl ihres Neugeborenen kümmerten – zum Beispiel ein Dolch, der gemeinsam mit Münzen an die Babyhaube genäht war, um Mutter und Kind vor dem "bösen Blick" zu schützen. Für den Propheten Elia, der als Beschützer der Neugeborenen gilt, stellten iranische Juden neben die Beschneidungsbank oder den Elia-Stuhl einen Stock für den Propheten.

Da er als "Engel des Bundes" bei jeder Beschneidung zugegen ist, gibt man ihm Gelegenheit, sich auf den Stock zu stützen, wenn er sich setzt, um von seinen vielen Reisen auszuruhen. Ein amtsärztliches Zeugnis aus Westpreußen aus dem Jahr 1858 bescheinigte einem gläubigen Juden die Fähigkeit, als Beschneider nach jüdischem Ritus zu wirken. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts war man zunehmend bemüht, die Beschneidung auf die allgemeinen medizinischen Standards abzustimmen.

Im muslimischen Raum liegt der Fokus auf den türkischen Zuwanderern, vor allem in Deutschland. Im Koran wird die rituelle Beschneidung nicht explizit erwähnt, nur in dessen Überlieferung, der Sunna, die die religiösen Handlungen der Muslime festlegt. Ein solcher prachtvoller Kommentar aus dem 18. Jahrhundert empfängt den Besucher in diesem Raum neben einem Beschneidungskostüm aus Tunesien.

Fotomotiv "Drei Brüder nach ihrer Beschneidung"  aus der Serie "Türken im Ruhrgebiet"; Foto: Jüdisches Museum Berlin
Anders als bei den Juden müssen die Muslime die Beschneidung nicht an einem bestimmten Tag vollziehen, es muss nur vor der Pubertät geschehen. In der Fotoreihe "Türken im Ruhrgebiet" dokumentierte Henning Christoph Beschneidungen im Zeitraum von 1978 bis 1985: Fotomotiv "Drei Brüder nach ihrer Beschneidung" aus der Serie "Türken im Ruhrgebiet".

Anders als bei den Juden müssen die Muslime die Beschneidung nicht an einem bestimmten Tag vollziehen, es muss nur vor der Pubertät geschehen. In der Fotoreihe "Türken im Ruhrgebiet" dokumentierte Henning Christoph von 1978 bis 1985 Massenbeschneidungen. Einige Jungen, alle elegant gekleidet und mit zu groß geratenen Offiziersmützen auf ihren Köpfen, stehen auf einer Bank, die mit türkischen Fähnchen dekoriert ist, wo sie auf ihre Beschneidung warten. Auf einem anderen Foto erkennt man einen etwa siebenjährigen Jungen auf einem Bett neben dem Beschneider, der einen weißen Kittel trägt. Im Hintergrund sieht man ein überdimensionales Porträtbild Atatürks hängen.

Beschnittene Prinzen

Mit der Islamisierung der türkischen Gesellschaft kamen die Uniformen der Generäle, mit denen man Kinder anlässlich dieser Feierlichkeiten bekleidete, aus der Mode. Ersetzt wurden sie durch die Kostüme von Prinzen, die übrigens in China hergestellt werden. "Säkulare Muslime neigen dazu, die Beschneidung direkt nach der Geburt vornehmen zu lassen, um ein großes Fest zu meiden", sagt Martina Lüdicke, eine der beiden Kuratorinnen der Ausstellung.

Überraschend ist, dass Christen einen wichtigen Teil dieser Ausstellung bilden, denn die Beschneidung wurde weitgehend durch das Ritual der Taufe abgelöst. Aber bis zur Liturgiereform 1969 feierten die Katholiken acht Tage nach Heiligabend, jeweils am 1. Januar, das Fest der Beschneidung des Herrn (der Beschneidung Jesu). Einige christliche Kirchen wie die koptisch-orthodoxe Kirche praktizieren die Beschneidung auch weiterhin.

Wohin Intoleranz und Vorurteile um das Thema Beschneidung führen können, zeugen einige Kunstwerke der Ausstellung, die die Beschneidung Jesu als Teil seiner Passion darstellen. Oder auch der Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert, der den angeblichen Ritualmord an sechs christlichen Knaben zeigt – durch Juden. Die Nazi-Hetzschrift „Der Stürmer“ stellte dieses Bild auf seine Titelseite 1939 unter der Überschrift "Ritualmord – das größte Geheimnis des Weltjudentums".

Im Medienraum der Ausstellung kann man neben der Beschneidungsdebatte im Bundestag auch den amerikanischen Dokumentarfilm "Cut: Slicing Through the Myths of Circumcision" sehen. Darin diskutiert der jüdisch-amerikanische Filmemacher Eliyahu Ungar-Sargon mit seinem orthodoxen Vater über seine Entscheidung, den eigenen Neugeborenen nicht beschneiden zu lassen. Diesen respektvollen Disput hätte man sich gewiss auch angesichts der erregten öffentlichen Beschneidungsdebatte hierzulande gewünscht.

Igal Avidan

© Qantara.de 2014