Ausnahmezustand in Kairo

Wie in allen islamisch geprägten Ländern steht auch in Kairo das Leben im Ramadan Kopf. Ein Stimmungsbild von Jürgen Stryjak

Skyline von Kairo, Foto: AP

​​Wer dieser Tage nach Kairo kommt, erlebt ein seltsames Schauspiel. Nachmittags ab zwei kommt der ohnehin sonst bereits dickflüssige Straßenverkehr in der gesamten 17-Millionen-Metropole völlig zum Erliegen. Entnervte Polizisten springen über die verstopften Kreuzungen, Menschentrauben umringen Mikrobusse, bevor sie zum Halten kommen, um einen Platz zu ergattern. Über allem liegt ein ununterbrochenes Hupkonzert. Kairo im Ausnahmezustand, ein ganz normaler Nachmittag im Ramadan. Da gilt: Die Bäuche sind leer, die Straßen voll. Zwischen 14 und 15 Uhr schließen alle Büros, Ämter und die meisten Geschäfte. Fast ganz Kairo macht sich auf den Weg, um rechtzeitig zum Iftar, dem Fastenbrechen, daheim am Essenstisch zu sitzen. "Wenn die Leute geduldig wären", sagt Taxifahrer Mahmoud Salama, "führen sie erst um vier los, eine Stunde vor dem Iftar. Da sind die Straßen leer, und sie wären in wenigen Minuten zu Hause. Pünktlich."

Wie vier Wochen Weihnachten

Von allem, was frommen Muslimen wichtig ist, gibt es im Ramadan reichlich: Fasten, Gebet, auch Spenden für Bedürftige; nur die für Ägypter so typische Geduld ist an Ramadannachmittagen völlig verschwunden. Das Iftar ist der Angelpunkt des gesamten Tagesablaufes. Alles dreht sich ums tägliche Festmahl zum Sonnenuntergang, wenn nach einem Tag der Entbehrung alle Genüsse bis zum Morgen wieder erlaubt sind – Essen, Trinken, Rauchen, Zärtlichkeiten zwischen Eheleuten, Wohlgerüche wie Parfüm usw. In gewisser Hinsicht kann man den Fastenmonat mit einem vier Wochen andauernden Weihnachtsfest vergleichen. Wenn sich der Ramadan irgendwo in der islamischen Welt seinen Glanz bewahrt hat, dann in Kairo. In Hauseingängen und Fenstern blinken Lichterketten. Kinder schmücken Straßen und Gassen mit Wimpeln und Ramadanlaternen, besonders auch in den ärmeren Vierteln. Im Ramadan hat Allah, so die Überlieferung, die Tafel mit dem Koran auf den untersten Himmel herabgesandt, und im Ramadan wurde dem Propheten Muhammad die erste Sure offenbart. Das macht ihn zu einem heiligen Monat.

Deshalb nehmen jährlich die Klagen darüber zu, dass aus dem Fest der Besinnung und Einkehr eines der Völlerei und des besinnungslosen TV-Konsums geworden ist. Die Familien ruinieren ihre Haushaltskassen mit opulenten Festessen, bei denen das Beste und – je nach Geldbeutel – Teuerste aufgeboten wird, um Verwandte und Nachbarn zu beeindrucken. Die Fernsehsender produzieren das Jahr über spezielle Seifenopern sowie Game- und Musikshows, die dann vier Wochen lang auf die Zuschauer niederprasseln. Bis weit nach Mitternacht sitzen die Kairoer in den Kaffeehäusern und Festzelten und feiern bei Tee, Wasserpfeife und Kulturprogrammen.

Kein Alkohol im Ramadan

Wer tagsüber nicht fastet, sondern isst, tut das aus Höflichkeit heimlich. Einfache Imbisse sind im Ramadan den gesamten Monat über geschlossen, aber in besseren Restaurants wird auch am Tage bewirtet. Eine McDonald’s-Filiale in der Pyramidenstraße hat Topfpalmen vor die Schaufenster gestellt, aber drinnen kann man Leute essen sehen. "Ich habe sogar Ägypter erlebt, die fasten", sagt die Amerikanerin Mary Awbrey, Tutorin an einer Kairoer Schule, "aber nichtfastenden Landsleuten trotzdem Gebäck und Tee anboten." Auf den Ramadan kann sie sich als Ausländerin gut einstellen. "Kairo ist in den Nächten wie verzaubert. Das macht die Einschränkungen wett. Allerdings kann es passieren, dass mir im Restaurant Bier serviert wird, mein ägyptischer Begleiter aber keines bekommt." Auch Läden für Alkohol haben im Fastenmonat geschlossen.

"Ich kenne Muslime", sagt Magdi Naguib, ein Christ, "die ihre Religion den Rest des Jahres nicht so genau nehmen, Alkohol trinken und nicht beten, aber im Ramadan sind sie wie verwandelt und plötzlich fromm." In den ersten Tagen fasten vielleicht neun von zehn der erwachsenen Kairoer Muslime, aber mit fortschreitendem Monat lässt die Überwindungskraft nach, am Ende mögen es noch 70 Prozent sein. Zum Tarawih-Gebet, bei dem Abend für Abend im Ramadan ein Dreißigstel des Korans rezitiert wird, sind anfangs die Moscheen voll, am Ende aber halbleer. Als Christ hat Magdi Naguib keine Probleme mit dem Fastenmonat. Auch wenn es sonst gelegentlich zu Spannungen zwischen den Religionsgruppen kommt, mit dem Ramadan haben sie nichts zu tun. "Eine Kirche in Shubra veranstaltet sogar ein tägliches Fastenbrechenbankett für Muslime."

Spenden für die Bedürftigen

Wie tief verwurzelt der Geist des Ramadan auch heute noch ist, zeigen am besten die Mawa’id ur-Rahman, die Tische des Barmherzigen, an denen wohlhabende Kairoer das Iftar für die Bedürftigen ausrichten, nicht selten mehrere Tausend Portionen pro Abend und Spender. Überall in der Stadt kann man die Tische zum Sonnenuntergang gedeckt sehen, zu langen Reihen aufgestellt, von Freiwilligen betreut. Auch Kleiderspenden sind üblich, denn nach alter Tradition begrüßen die Kairoer das dreitägige Fest des Fastenbrechens am Monatsende mit neuer Kleidung. "Es ist ein Brauch", schrieb Georg August Wallin 1844, "dass jeder zu diesem Fest neu eingekleidet sein muss oder wenigstens ein neues Kleidungsstück tragen muss. In den letzten Tagen des Ramadan bemerkt man deshalb auf den Straßen von Kairo ein ungewöhnliches Treiben und Leben, insbesondere auf den großen Märkten und Basaren. Jeder will etwas kaufen." Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Jürgen Stryjak

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