Rot sei meine Krawatte

Das Image der Türkei wandelt sich – allein schon aus wirtschaftlichen Gründen wünschen sich einflussreiche Unternehmer und Ökonomen eine Aufnahme in die EU. Das beeinflusst auch die kulturelle Wahrnehmung des Landes, schreibt Christiane Schlötzer

Ortakoy-Moschee am Bosporus; Foto: &copy Mustafa Tüzel
Der Bosporus ist im Kommen: Die Türkei wird in Deutschland zunehmend als kultureller Bezugspunkt wahrgenommen

​​Was einst die Villa war, ist heute die Dachterrasse. Wer es sich leisten kann, lebt oben. Ob München-Gärtnerplatz oder Galata-Istanbul. Der Standort Bosporus hat dabei gegenüber der Isarlage einen eindeutigen Vorteil: den unvergleichlich erhabenen Blick auf Schätze aus zwei Jahrtausenden.

Ein Istanbuler Architekt, der aus dieser Aussicht eine Geschäftsidee gemacht hatte, lud jüngst in München zu einem "Heimwehabend" für all jene, die schon einmal wenigstens zu Urlaubszwecken eine seiner stilvoll restaurierten Dachterrassenwohnungen am Bosporus bewohnt hatten.

Die Münchner "location" füllte sich mit so vielen Heimwehkranken, dass das türkische Büfett in Kürze krümelfrei kahlgefressen war. Wohlgemerkt, es waren nicht Türken, die sich bei diesem saalsprengenden Dia-Abend ihrer Bosporus-Wehmut ergaben, sondern Deutsche, darunter auffällig viele, wie man sie früher zur Toskana-Fraktion hätte zählen können, nur vielleicht etwas lockerer, jünger.

Eine Image-Kur für die Türkei

Wer türkische Meze italienischen Antipasti vorzieht, weiß sich inzwischen in guter Gesellschaft. Der Istanbuler Architekt veranstaltet seine Soirée inzwischen auch in Zürich, Berlin und Luzern. Die Türkei ist nicht mehr nur das Land des Kurdenkonflikts und sonstiger Katastrophen, jedenfalls nicht mehr für den weltgewandten Westeuropäer, der längst entdeckt hat, dass es sich auf Istanbuler Tanzterrassen inzwischen ausgiebiger und freizügiger feiern lässt als über den Dächern von Rom oder Paris.

Aber das ist es nicht allein. Die Türkei kommt in diesem Jahr, jedenfalls was Imagefragen betrifft, gewaltig voran. So viel Türkei gab es noch nie: Die Popkomm in Berlin hat auch in diesem Jahr ein Partnerland: Es ist die Türkei. Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist: die Türkei. Bei der Bonner Biennale steht im Mittelpunkt: die Türkei. Kein "Migrationsfestival" soll die Bonner Werkschau werden, wie Biennale-Intendant Klaus Weise sagt.

Und auch Dieter Gorny, Chef des Bundesverbands Musikindustrie, möchte mit dem Entertainment-Ereignis im Oktober seine türkischen Partner herausholen aus "ihrem Nischendasein", aus dieser "künstlichen Migrations- und Weltmusikdebatte".

Kaffeetasse mit Halbmond

Das klingt nach großer Rehabilitierung für ein bislang eher geringgeschätztes Kulturland. Und weil die Stimmung gerade so schön ist, schwimmt auch die Wirtschaft auf der neuen Bosporus-Welle.

Der im eigenen Land höchst einflussreiche türkische Unternehmerverband Tüsiad hat soeben ein Hochglanzheft produziert, das in dieser Woche bundesweit der Frankfurt Allgemeinen Zeitung beilag, aber auch an Meinungsbildner in ganz Deutschland verschickt wurde. Es ist ein bemerkenswertes Stück Eigenwerbung, so glänzend gemacht, dass sich PR-Spezialisten gar nicht mehr beruhigen können über diesen Auftritt.

Roland Berger mit Kaffeetasse; Foto: &copy Tüsiad
Raus aus dem Nischendasein: Unternehmensberater Roland Berger mit türkischer Kaffeetasse.

​​Das Titelblatt ist voller Text, aber eigentlich sind es nur Wörter; ein Wohlfühl-Stakkato, gedruckt in sympathischblau: Tee. Energie. Jugend. Aufbruch. Hamam. Wachstum. Inspiration. Troja. Moderne. Raki. Lebensfreude. Genuss. Nachbarschaft und so weiter.

Nur ein einziger halbwegs kompletter Satz steht inmitten dieser Wortkaskaden. Er lautet: "Warum die Türkei zu Europa gehört." Der Satz erscheint in Gelb. Blau und Gelb sind die Farben der Europafahne.

In der Broschüre treten auf: Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank (Zitat: "Die Türkei ist Europas nächstes Wirtschaftswunder"), Unternehmensberater Roland Berger (eine Kaffeetasse mit türkischem Halbmond in Händen), Ex-Daimler-Vorstandvorsitzender Edzard Reuter ("Die Türkei ist meine zweite Heimat" – Reuters Eltern hatten die Nazi-Zeit einst in der Türkei überlebt).

"Aus Freunden müssen Partner werden"

Auch die Politik lässt sich als Werbeträger bitten: Drei deutsche Abgeordnete mit türkischen Wurzeln (von CDU, SPD und Grünen) schippern in einem Boot auf der Spree, die so fotografiert ist, als könnte hier auch das Bosporus-Ufer sein.

Wenn man ein wenig die Augen zusammenkneift, wirkt der Reichstag im Hintergrund mit seinen Schnörkelkapitellen wie der ebenfalls im 18. Jahrhundert im Stil der Neorenaissance erbaute Dolmabahce Palast.

Der PR-Auftritt von Ex-SPD-Chef Frank Müntefering wirkt dagegen vergleichsweise nüchtern ("aus Freunden müssen Partner werden"). Ihm folgt noch mit (türkisch) roter Krawatte Günter Verheugen, der Vizepräsident der EU-Kommission. So bekommt die Hochglanzpostille eine hochpolitische Botschaft. Sie fällt eindeutiger aus, als die große Koalition in Berlin derzeit wohl ihre Türkei-Perspektive formulieren würde. Dies ist durchaus pikant.

Wohl deshalb fehlt in dem Sympathiemagazin auch ein Foto von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der vor eineinhalb Jahren die hier als Kooperationspartner von Tüsiad zeichnende Ernst-Reuter-Stiftung mit dem damaligen türkischen Außenminister Abdullah Gül in Istanbul aus der Taufe gehoben hat.

Die Italianisierung Anatoliens

Die Image-Offensive von türkischer Industrie und deutscher Politik setzt klar auf kulturellen Mehrwert. Und der reicht von dem dezenten Hinweis auf die "multiethnische" osmanische Vergangenheit über den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk bis zur neuen Istanbul-Mania.

So schön ist die neue Toskana – Türkei – weniger schön ist allerdings, dass die selbstbewusste Präsentation der Türkei als gerade erst aus einem langem Tiefschlaf am Bosporus erwachender Riese im auffälligen Gegensatz zu ganz anderen Wahrnehmungswelten steht.

Türkische Frauen beim Einkauf im Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg; Foto: dpa
Trotz einsetzender kultureller Hippness: Gesellschaftlich fühlen sich viele in Deutschland lebende Türken an den Rand gedrängt

​​Der Aufstieg des Landes zur Wirtschafts- und Kulturmacht geschieht gleichsam weit oben über den Köpfen der Europa-Türken – und speziell der Deutschland-Türken.

Deren Lebensgefühl ist weit weniger erhaben. Die Journalistin und Deutsch-Türkin Canan Topcu hat es gerade für den Spiegel beschrieben. "Allah im Abendland" heißt das Magazin-Special. Topcu klagt darin, dass sie sich angesichts von Moscheebaustreit und tumber anti-türkischer Reflexe in Deutschland immer mehr "in die Ecke gedrängt" fühle.

"Ich bin Muslima", schreibt sie und ist von diesem trotzigen Bekenntnis selbst am meisten überrascht. Angesichts von offener Islamfeindlichkeit sieht sie sich erstmals zu einem solchen Einwurf genötigt, ohne wirklich fromm zu sein.

Die Anwältin Seyran Ates, ebenfalls Deutsche mit türkischen Wurzeln, fühlt sich ähnlich verletzt, wenn ihr nach 38 Jahren in Berlin immer noch die Frage gestellt wird, ob sie ab und an "nach Hause" fahre, wobei natürlich die Türkei gemeint ist.

Ates ist prominent, sie gehört zu denen, die den Aufstieg geschafft haben. Und sie hat die türkischen Parallelwelten in Deutschland immer wieder heftig kritisiert.

Aber die türkischen Bazare in Neukölln und die türkischen Lebensmittelmärkte in der Münchner Goethe-Straße, wo bayerische Metzger ihre frisch geschlachteten Lämmer loswerden, sind zwar Elemente eines eigenen Kosmos. Aber viele Türken in Deutschland erleben, dass es noch ein anderes Parallel-Universum gibt. Ihr einstiges Heimatland steigt auf, aber sie selbst müssen häufig noch um einfachen Respekt kämpfen.

Der deutsche Nachbar macht Urlaub in Antalya, vielleicht noch mit einem Abstecher zu den Höhlenkirchen von Kappadokien, aber der Türke hier bleibt ewig Migrant – und sieht sich allein schon, weil er dieses Wort nicht loswird, immer öfter in seiner Menschenwürde verletzt.

"Ich wandere gern im Rheingau und entspanne mich bei Cello-Sonaten von Bach; ich hatte gedacht, hier kein Fremdkörper mehr zu sein", schreibt die von der ewigen Abwehr enttäuschte Canan Topcu.

Gastarbeiter, Migrant – die Worte kennt die von Tüsiad und der Ernst-Reuter-Stiftung fein herausgeputzte Bosporus-Braut schon gar nicht mehr. Gastarbeiter-Deutschland war gestern, nun gibt es die "Initiative Moderne Türkei", wie sich das in Großbuchstaben geschriebene Bündnis mit blau-gelbem Stern im Logo nennt.

Auf den Einsatz türkischer Politiker für ihre Kampagne haben die Wirtschaftsleute übrigens verzichtet. Dem Image dürfte auch das eher dienlich sein. Schließlich ist das politische Feld in der Türkei derzeit schlicht zu unübersichtlich.

Christiane Schlötzer

© Süddeutsche Zeitung 2008

Dieser Artikel wurde am 9. April 2008 in der Süddeutschen Zeitung publiziert.

Christiane Schlötzer ist seit 1992 Redakteurin der Süddeutschen Zeitung. Sie berichtete von 2001 bis 2005 als Korrespondentin aus Istanbul. Seit 2005 ist sie stellvertretende Ressortleiterin Außenpolitik.

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