Es ist ihre Revolution

Die Zahl der Toten und Verletzten in Libyen wird weiter steigen, weil Oberst Gaddafi keiner ist, der aufgibt. Trotzdem darf sich der Westen militärisch nicht einmischen, um nicht die Legitimität der Proteste zu gefährden. Ein Kommentar von Tomas Avenarius

Die Zahl der Toten und Verletzten in Libyen wird weiter steigen, weil Oberst Gaddafi keiner ist, der aufgibt. Trotzdem darf sich der Westen militärisch nicht einmischen, um nicht die Legitimität der Proteste zu gefährden. Die Menschen in Tobruk, Bengasi und Tripolis wollen keine Hilfe aus dem Ausland – sie haben ihren Aufstand gegen den "Bruder Führer" alleine begonnen und müssen ihn alleine beenden. Ein Kommentar von Tomas Avenarius

Muammar Gaddafi; Foto: dpa
Bald ganz allein? "Gaddafi mag ein megalomaner Irrer sein oder ein zynischer Machiavellist: Realist war er immer. Ihm bleibt die Wahl zwischen dem Tod im Palast, der Hinrichtung nach einem libyschen Prozess oder bestenfalls der Gefängniszelle in Den Haag", schreibt Avenarius.

​​Die Liste der Sanktionen ist lang und sie kam für UN-Verhältnisse erstaunlich schnell: Einstimmig verhängte der Weltsicherheitsrat ein vollständiges Waffenembargo über Libyen. Dazu erließ das oberste Organ der Staatengemeinschaft ein Reiseverbot für die Familie von Diktator Muammar al-Gaddafi, seine Familie und seine obersten Schergen.

Die Milliarden-Konten des Gewaltherrschers werden gesperrt, ebenso die seiner Söhne und seiner Tochter. Noch wichtiger: Gaddafi wird sich von dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten müssen.

Der libysche Despot ist mit äußerster Brutalität gegen die friedliche Protestbewegung vorgegangen. Jets, Helikopter, Panzer und Flugabwehrgeschütze gegen unbewaffnete Demonstranten, die Freiheit fordern. Falls Oberst Gaddafi das sich langsam abzeichnende Ende dieser Revolution überleben sollte, wird er den Rest seines Lebens in einer europäischen Gefängniszelle verbringen oder an einem libyschen Galgen enden.

Die Frage, ob die internationale Staatengemeinschaft wieder einmal zu lange gewartet hat, bis sie sich von einem der einschlägigen arabischen Autokraten abwendet, ist ebenso berechtigt wie müßig.

Die Staats- und Regierungschefs, die Wirtschaftsbosse und auch der UN-Generalsekretär wussten alle, mit welchen Mitteln der Libyer über seine nicht einmal sechs Millionen Bürger herrschte. Aber das Land hat Öl. Das wog im Umgang mit den Königen, Emiren und Obristen der Arabischen Welt immer schwerer als Blut.

Libyer hält eine Waffe an ein Gaddafi-Poster; Foto: dpa
Die Menschen in Libyen "haben die Chance, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, die die Menschen- und Bürgerrechte im eigenen Land besser schützen kann, als es die Geschäftsinteressen der westlichen Staaten und ihrer Öl-Konzerne je tun werden", meint Avenarius.

​​Erfolgversprechender als rückblickende Debatten über die fehlende Moral des Westens ist für Libyen daher die eigene Zukunft: Die Menschen haben sich gegen ihren seit 42 Jahren herrschenden "Bruder Führer" aufgelehnt. Sie sind auf dem Weg, ihre Revolution zu gewinnen.

Sie haben die Chance, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, die die Menschen- und Bürgerrechte im eigenen Land besser schützen kann, als es die Geschäftsinteressen der westlichen Staaten und ihrer Öl-Konzerne je tun werden. Selbstbestimmung statt Abhängigkeit vom guten Willen anderer ist der Preis, den die Libyer gewinnen können.

Alle saßen in Gaddafis Beduinenzelt

Entscheidend ist, dass die Staatengemeinschaft sich militärisch nicht einmischt in die Kämpfe zwischen dem Überrest des Regimes und der landesweiten Opposition. Gaddafis Volk hat seinen Aufstand alleine begonnen. Es muss ihn alleine beenden. Die Libyer haben schon jetzt einen hohen Preis bezahlt. Der Blutzoll wird weiter steigen und es wird der Welt sehr schwer fallen, tatenlos zuzusehen: Der Oberst in Tripolis ist keiner, der aufgibt.

Er wird sein letztes Aufgebot auf die Aufständischen hetzen, seine Söldner und Getreuen weiter schießen lassen. Dennoch steht fest: Sollten Nato-Jets Gaddafis Milizen jetzt bombardieren, würde diese Revolution ihre Legitimität verlieren. Die Menschen in Tobruk, Bengasi und Tripolis wollen keine Hilfe aus dem Ausland. Der Ruf der großen Industriestaaten ist bei ihnen seit langem ruiniert.

Den Bock zum Gärtner gemacht

Die Staats- und Regierungschefs, die Außenminister und Konzernführer - alle saßen sie in Gaddafis Beduinenzelt. Sie hörten sich brav die wirren Reden des eitlen Staatschefs an, der unterzeichnete dafür am Ende einträgliche Verträge. Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder war dabei, der Italiener Silvio Berlusconi, Franzosen, Amerikaner und Chinesen.

Straßenblockaden in Tripolis; Foto: AP
"Gaddafis Volk hat seinen Aufstand alleine begonnen. Es muss ihn alleine beenden. Die Libyer haben schon jetzt einen hohen Preis bezahlt. Der Blutzoll wird weiter steigen und es wird der Welt sehr schwer fallen, tatenlos zuzusehen: Der Oberst in Tripolis ist keiner, der aufgibt", meint Avenarius.

​​Die Vereinten Nationen nahmen Libyen in ihren Menschenrechtsrat auf und machten den Bock zum Gärtner. Gestört hat das nur wenige.

Gaddafi-Sohn Saif al-Islam reiste währenddessen durch die Hauptstädte der Welt, verkaufte sich als Libyens Reformer, ausgezeichnet mit einem britischen Doktortitel. Er war auch in Deutschland. Jetzt hat der Sohn sich entlarvt als das Abziehbild seines Vaters: arrogant, brutal, ein kommender Diktator.

In Libyen selbst ist noch nichts entschieden. Der alte Gaddafi, der alle Züge eines Psychopathen aufweist, wusste schon vor den UN-Sanktionen keinen Ausweg mehr. Er sieht sich einem Volksaufstand gegenüber, der sich auch durch Reformen nicht mehr beenden lässt.

Die Libyer haben nach der Gewaltorgie eine klare Forderung: Das Aus für Gaddafi. Der Gewaltmensch kann nur weiter gegen sein eigenes Volk kämpfen. Er kontrolliert nur noch einen Teil des Landes. Er kann die Macht zurückgewinnen oder untergehen. Flucht und Exil, der ruhige Alterssitz bei den Gleichgesinnten in Venezuela oder Bolivien, ist keine Option mehr.

Aber Gaddafi kommandiert noch immer seine Milizen, hat keine Hemmungen, sie einzusetzen. Wer zweifelt, sollte sich erinnern: 1996 ließ er 1200 Regimegegner ermorden - an einem Tag. Als die jüngste Revolte begann, ließ er schon am ersten Tag schießen: Außer Gewalt fällt diesem "Bruder Führer" nichts ein.

Der Erfinder der "Dritten politischen Universaltheorie" mag ein megalomaner Irrer sein oder ein zynischer Machiavellist: Realist war er immer. Ihm bleibt die Wahl zwischen dem Tod im Palast, der Hinrichtung nach einem libyschen Prozess oder bestenfalls der Gefängniszelle in Den Haag. So, wie der Despot gestrickt ist, dürfte er sich für den Palast entscheiden, für den Kampf bis zur letzten Kugel.

Tomas Avenarius

© Süddeutsche Zeitung 2011

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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