"Sexueller Putsch" im Gottesstaat

Sexualität ist im Iran ein Tabuthema. Aber die junge Gesellschaft will Aufklärung und mehr sexuelle Freiheiten. Aus dem Exil kommt nur wenig Unterstützung, dennoch scheint sie wirkungsvoll zu sein. Von Shahrzad Osterer und Farhad Payar

Von Shahrzad Osterer & Farhad Payar

Googelt man den Begriff "sexuelle Aufklärung" auf Persisch, bekommt man eine Vielzahl Einträge, die an erster Stelle auf kostenlose Downloads persischer Übersetzungen von ausländischen Büchern und Kinderbüchern verlinken. Dabei nimmt Sigmund Freuds Schrift "Zur sexuellen Aufklärung der Kinder" einen wesentlichen Teil ein.

Andere Links führen zu Publikationen, die die sexuelle Freizügigkeit des Westens verteufeln, die Abkehr von Moral und Religion beklagen oder junge Frauen auf die Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten vorbereiten. Es hat den Anschein, als hätte sich kaum jemand, weder im Iran noch in der Diaspora, um sexuelle Selbstbestimmung, sexuelle Praktiken, sexuelle Hygiene oder sonstige wichtige Aspekte der natürlichsten Sache der Welt je Gedanken gemacht. Keine Spur von iranischen Pendants zu Publikationen wie dem Hite- oder dem Kinsey-Report.

Doch wenn man lange genug sucht, findet man immerhin einige Einträge, die von Aktivitäten Einzelner in der iranischen Regierung oder im Ausland berichten.

Das liefert ein Bild der realen Verhältnisse im Iran. Dessen relativ junge Bevölkerung ist mit sexuellen Tabus konfrontiert und sucht Trost im Geheimen. Dafür ist das Internet ein geeigneter Ort – ob für Selbstbefriedung oder für Blind Dates in den Großstädten.

Drakonische Strafen für sexuelle Abenteuer

Junge iranische Web-User begeben sich damit auf sexuelle Abenteuer, für die in der Islamischen Republik harte Strafen bis zur Hinrichtung vorgesehen sind. Die verzweifelte Suche der iranischen Jugend nach sexueller Freiheit wird sowohl von westlichen Medien wie auch von den heimischen Ayatollahs als "sexuelle Revolution" bezeichnet.

Doch die Realität sieht anders aus: Nach wie vor sind im Gottesstaat Iran öffentliche Debatten über Sexualität absolut tabu, Unterdrückung der Triebe ist die Norm, sexuelle Aufklärung wird bei Überschreitung bestimmter Grenzen gar als "Verführung zur Verderbtheit und Dekadenz" bestraft.

Persische Miniatur von Reza Abbasi zeigt zwei Liebende (1629-1630); Quelle: Wikipedia
Liebe und Sexualität unter staatlicher Aufsicht: Nach wie vor sind im Gottesstaat Iran öffentliche Debatten über Sexualität absolut tabu, Unterdrückung der Triebe ist die Norm, sexuelle Aufklärung wird bei Überschreitung bestimmter Grenzen gar als „Verführung zur Verderbtheit und Dekadenz“ bestraft. Es gibt zwar private und staatlich geförderte sexuelle Beratung für junge Paare vor der Hochzeit, doch diese beschränkt sich hauptsächlich auf den sexuellen Akt in der Hochzeitsnacht und die Verhütung.

Es gibt zwar private und staatlich geförderte sexuelle Beratung für junge Paare vor der Hochzeit, doch diese beschränkt sich hauptsächlich auf den sexuellen Akt in der Hochzeitsnacht und die Verhütung.

Eine Sache des Staates?

Die Regierenden betrachten die Kontrolle der gesellschaftlichen Moral als eine ihrer Hauptaufgaben. Der Staat gibt Millionen für eine Zensurbehörde aus, die darauf achtet, dass "sexuell erregende Begriffe" – dazu gehören etwa Busen, Schenkel, rote Lippen, Schamhaare – weder in den Schulbüchern noch in künstlerischen und literarischen Werken auftauchen.

Doch nicht nur der Staat, auch die Mehrheit der Gesellschaft klammert sich an rigide Moralvorstellungen. Im Iran löst die direkte Benennung der Geschlechtsteile, "Kir" (Penis) und "Kos" (Scheide), in der Öffentlichkeit Empörung aus. Für sie gibt es unzählige absurde Bezeichnungen, der gängigste: Instrumente zur Fortpflanzung.

Schriftsteller und Künstler beschweren sich häufig darüber, dass nicht nur die staatliche Zensur, sondern auch "Bigotterie" und "Prüderie" der Gesellschaft kreativen Menschen Grenzen setzten. Sie beklagen autoritäre Strukturen, die Kunstschaffende zu einer gravierenden Selbstzensur gezwungen hätten.

Hilfe aus dem Ausland

Doch nicht nur im Iran, auch unter den Auslandsiraner gibt es keinen öffentlichen Diskurs über Sexualität. Die vier bis sechs Millionen Iraner in der Diaspora haben bisher keine nennenswerten Schritte im Dienste der sexuellen Aufklärung im Iran unternommen.

Der iranisch-schwedische Soziologe Mehrdad Darvishpour hat sich mit dem Thema beschäftigt und herausgefunden: "Trotz der relativen sexuellen Freiheit im Westen sind Konservatismus und Verschlossenheit bei den Exiliranern spürbar. Also widmet man seine Aufmerksamkeit anderen Themen, sexuelle Aufklärung wird nur am Rande gedacht." Die Opposition im Exil habe sich zwar immer im politischen Kampf mit dem iranischen Regime befunden, sagt der Wissenschaftler. "Die unterschiedlichen politischen Haltungen bedeuten aber nicht, dass die Opposition auch in allen gesellschaftlichen Fragen anderer Meinung als das Regime ist."

Auch die oppositionellen Gruppen im Ausland seien "männerdominiert und weitgehend patriarchalisch strukturiert", so Darvishpour. Mehrheitsmeinung in der Opposition sei, "dass Sexualität eine ausschließlich private Angelegenheit ist." Dabei zeigten neue wissenschaftliche Studien, dass Sexualität ein wichtiges Instrument der Machtausübung sei, erklärt der Wissenschaftler: "Es gibt zum Beispiel oppositionelle Gruppen wie die Volksmudschahedin, die die Sexualität jedes ihrer Mitglieder streng kontrollieren und sogar Zwangsscheidungen durchführen. Hier wird eine Privatangelegenheit wie die Ehe zu einem ideologischen Symbol gemacht."

Die Mehrheit der über alle Kontinente verteilten Exil-Iraner hat den Iran im Zuge der "Säuberungsaktionen" des islamischen Regimes in den 1980er Jahren verlassen, um der damaligen Hinrichtungswelle zu entkommen. Sie gehörten entweder der linken Opposition an, zu der auch die Volksmudschahedin gezählt wurden, oder waren Angehörige der Aristokratie.

Die Sittenwächter der Volksfedayin

Die Linke sah (und sieht) sich als Vertreterin der Arbeiter und Bauern und ordnete dabei Emanzipation und sexuelle Aufklärung als zweitrangige Themen – Nebenwidersprüche – ein, auf die kein besonderer Wert zu legen ist. Ein Teil der Marxisten-Leninisten, besonders die bei der Jugend beliebte Organisation der Volksfedayin, war sogar sehr bemüht, die "gesellschaftliche Moral" zu achten. Genossen, die sich "amoralisch" verhielten, wurden ermahnt oder von der Organisation ausgeschlossen.

Anhänger der autoritären Volksmudschahedin demonstrieren in der Nähe von Paris; Foto: Getty Images
Moralapostel und Sittenwächter im Dienste der autoritären politischen Linken: "Oppositionelle Gruppen wie die Volksmudschahedin kontrollieren die Sexualität jedes ihrer Mitglieder streng und führen sogar Zwangsscheidungen durch. Hier wird eine Privatangelegenheit wie die Ehe zu einem ideologischen Symbol gemacht", so der iranisch-schwedische Soziologe Mehrdad Darvishpour.

In mindestens einem Fall soll es deswegen sogar zur Hinrichtung eines Guerillakämpfers gekommen sein. Nach Angaben von Mehdi Fattapour, einem der Anführer der Volksfedayin, hatte Abdollah Panjeh-Shahi ein sexuelles Verhältnis mit einer Guerillakämpferin, mit der er in einer konspirativen Wohnung lebte. Obwohl die Liebesbeziehung auf beidseitigem Einverständnis beruhte, wurde er erschossen, die Frau schloss man aus der Organisation aus. Die Hinrichtung wurde damit begründet, dass die außereheliche Beziehung in den Augen der Bevölkerung unmoralisch sei und vom Schah-Regime gegen die Organisation ausgenutzt werden könnte.

Nach der Niederschlagung der sogenannten Grünen Bewegung 2009 verließen wieder Zehntausende den Iran, um den staatlichen Repressalien zu entkommen. Diese mehrheitlich jungen Menschen waren zwar im Vergleich zur Generation ihrer Eltern der Sexualität gegenüber aufgeschlossener, doch Studien über die Identität der Diaspora-IranerInnen belegen, dass ein Großteil der Migrierten sich nach wie vor zu den moralischen Werten der iranischen Gesellschaft bekennt und immer noch eine enge Verbindung zur einstigen Heimat hat.

So hat Judith Albrecht nach einer zweijährigen empirischen Forschungsarbeit über "soziale Konstruktion weiblicher Identitäten iranischer Frauen" in Berlin, Teheran und Los Angeles herausgefunden, dass iranische Frauen in den USA heute noch – wie im Iran – auf die Familie "als wichtige und identitätsstiftende Größe“ verweisen. Sie schreibt: "Für die Frauen in der Diaspora und im Exil bleibt das zurückgelassene Land Iran weiterhin der primäre Orientierungspunkt des Handelns."

Doch immerhin verhält sich ein kleiner Teil der Exilanten gegenüber den Moralvorstellungen der iranischen Gesellschaft kritisch und kämpft aus der Ferne für die Veränderung "der überkommenen Weltanschauung". Diese "Querulanten" sind über die ganze Welt verteilt und stehen miteinander auch kaum in Verbindung. Dennoch beginnen, ihre Aktivitäten zu fruchten.

Generation Internet

Das Online-Projekt Jensiat etwa klärt anhand von Comics über Geschlechtskrankheiten auf. Und das kommt auch bei Menschen im Iran an. 2013 hat die persischsprachige Redaktion der Deutschen Welle das Thema aufgegriffen. Man habe festgestellt, dass kaum persischsprachige Angebote zur sexuellen Information und Bildung existierten, so eine Mitarbeiterin der Redaktion. Aus dieser Erkenntnis entstand das Projekt "Sexualität, Liebe und gemeinsames Leben".

Andere persischsprachige Radio- und TV-Sender haben auch sich mit dem Thema beschäftigt. Der TV-Sender Manoto zum Beispiel hat einige Sendungen über Sexualität ausgestrahlt. Darin ging es unter anderem um die sexuelle Aufklärung an den Schulen im Iran. Der in London ansässige Sender gibt zu, dass auf die Moralvorstellungen der iranischen Gesellschaft Rücksicht genommen werden musste. Deshalb seien Eltern "durch die Blume" auf die Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung ihrer Kinder hingewiesen worden.

Comic-Clip aus "Jensiat"; Quelle: www.jensiat.io
Ein kleiner Teil der Exilanten gegenüber den Moralvorstellungen der iranischen Gesellschaft kritisch und kämpft aus der Ferne für die Veränderung „der überkommenen Weltanschauung“. So auch das Online-Projekt Jensiat, das anhand von Comics über Geschlechtskrankheiten aufklärt.

Es gibt auch zahlreiche Social-Media-Aktivisten, die sich mit sexuellen Themen auseinandersetzen. Allerdings kann man nicht feststellen, ob diese innerhalb des Iran oder vom Ausland aus agieren.

Viele Experten sind sich einig: Die effektivsten Aktivitäten zur sexuellen Aufklärung im Iran kommt von LGBT-Aktivisten im Exil. "Das Internet und andere Kontakte zu queeren Aktivisten und Theoretikern außerhalb des Iran haben offensichtlich ermöglicht, dass gesellschaftspolitisch interessierte Menschen im Iran sich mit Zwangsheterosexualität und gleichgeschlechtlichen Lebensweisen auseinandersetzen", sagt Saideh Saadat-Lendle, Leiterin der Berliner "LesMigraS, Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung".

Die iranischstämmige Aktivistin setzt sich seit über 25 Jahren für Aufklärung und Unterstützung von Lesben ein. In dieser Zeit hat sie die Erfahrung gemacht, dass innerhalb der gebildeten Schichten der Gesellschaft ein Wertewandel eingetreten ist: "Die jungen Menschen der 'Generation Internet', die seit 2009 den Iran verlassen, stehen dem Thema Homosexualität weit offener gegenüber als die Generationen davor."

Jahrzehntelang versuchte das islamische Regime, den Einfluss der Diaspora-Iraner auf die Entwicklungen im Iran zu ignorieren. Doch seit ein paar Jahren beschweren sich die Verantwortlichen im islamischen Gottesstaat und ihre Anhängerschaft über deren Einfluss, besonders in Bezug auf sexuelle Aufklärung.

Während die einen die "aus Amerika" importierte "sexuelle Revolution" anprangern und vor einem "sexuellen Putsch" warnen, setzen sich gemäßigtere Kräfte für das Verständnis der "natürlichen Gelüste" der Jugend ein. Beide Gruppen sehen die Auslandsiranern als Verursacher der "schleichenden Veränderung der Sexualethik" an und verlangen nach geeigneten Lösungen seitens der Verantwortlichen.

Shahrzad Osterer & Farhad Payar

© Iran Journal 2017