Angst vor Ketzern und Dämonen

Atheisten werden in Saudi-Arabien bis heute gesellschaftlich geächtet und unterdrückt, bisweilen sogar als Terroristen diskreditiert und hingerichtet. Die Bemühungen, das Verhältnis zwischen ihnen und den gläubigen Muslimen im Königreich zu normalisieren, waren bislang vergebens. Von Hakim Khatib

Von Hakim Khatib

Obwohl die Religionsführer in Saudi-Arabien immer wieder vor der "Gefahr des Atheismus" oder dem "Zweifel an Gott" warnen, wenden sich viele Bürger des Königreichs vom Islam ab. Diese Abkehr von der Religion könnte unter anderem an den strengen saudischen Gesetzen im Namen des Islam oder am leichten Zugang zu Informationen im Zeitalter der Massenkommunikation liegen. Leider müssen diejenigen, die diesen Weg tatsächlich beschreiten, mit drakonischen Strafen rechnen oder ein Doppelleben führen.

Vor Kurzem erst wurde im saudischen Königreich erneut ein Atheist zum Tode verurteilt, weil er ein Video veröffentlicht hatte, in dem er dem Islam entsagte. Sein Name ist der junge Ahmad al-Shamri aus Hafar al-Batin, einer Kleinstadt im Osten des Landes. In seiner Videobotschaft schwörte Al-Shamri dem Islam ab und äußerte sich abschätzig über den Propheten Mohammed. Nachdem er 2014 in den sozialen Medien einige Videos hochgeladen hatte, um seine Ansichten zu teilen, wurde er wegen "Atheismus und Blasphemie" angeklagt.

Da die Abkehr vom Islam in Saudi-Arabien mit der Todesstrafe geahndet wird, wurde Al-Shamri am 25. April 2017 vom Obersten Gerichtshof des Landes tatsächlich zum Tode verurteilt. Auch wenn sich solche Gerichtsverhandlungen über Monate hinziehen können, steht im Fall von Blasphemie, Atheismus oder Homosexualität das Urteil häufig schon vorher fest.

Richter und Henker

2014 hatte die Regierung in Riad einige Gesetze verabschiedet, die es unter Strafe stellen, "atheistisches Gedankengut" zu verbreiten oder die "Grundlagen der islamischen Religion" in Frage zu stellen. Laut Informationen von Amnesty International fanden in Saudi-Arabien bisher mindestens 154 Hinrichtungen statt, bei denen die "Todesstrafe aufgrund von Prozessen vollstreckt wurde, die nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprechen". Hierzu einige Beispiele:

Hinrichtungen in Saudi-Arabien; Quelle: Amnesty International
Laut Informationen von Amnesty International wurden zwischen Januar 1985 und Juni 2015 mindestens 2.208 Menschen hingerichtet. Durchschnittlich wird in Saudi-Arabien alle zwei Tage ein Mensch hingerichtet, meistens durch Enthauptung. Fast die Hälfte aller Exekutionen waren die Strafe für ein Verbrechen ohne Todesfolge.

Im Januar 2017 wurde über einen namentlich nicht bekannten Jemeniten berichtet, der in Saudi-Arabien lebt. Er wurde der Abtrünnigkeit beschuldigt und für die Beleidigung des Islam auf seiner Facebook-Seite zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt.

Im November 2016 wurde der indische Gastarbeiter Shankar Ponnam zu vier Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet 1.195 Euro verurteilt. Er hatte auf Facebook ein Bild des hinduistischen Gottes Shiva verbreitet, der auf der Kaaba sitzt.

Im November 2015 wurde der palästinensische Dichter und Atheist Ashraf Fayadh für die Verleugnung des Islam zum Tode verurteilt, weil er angeblich die Religion in Frage gestellt und über seine Gedichte den Atheismus verbreitet haben soll. Nachträglich wurde seine Strafe in eine achtjährige Gefängnisstrafe und 800 Peitschenhiebe umgewandelt.

2014 wurde Raif Badawi wegen Blasphemie angeklagt, weil er eine Webseite erstellt hatte, um die Diskussion über Religion und Politik zu fördern. Er wurde zu zehn Jahren Gefängnis und 1.000 Peitschenhieben verurteilt.

2012 wurde der Journalist Hamza Kashgari wegen Blasphemie angeklagt, nachdem er einige Tweets veröffentlicht hatte. Er wurde in Malaysia verhaftet und nach Saudi-Arabien gebracht. Seitdem sind keine weiteren Informationen über seinen Fall bekannt geworden.

Terrorvorwürfe gegen Atheisten

2014 hatte Saudi-Arabien durch königliche Dekrete eine Reihe neuer Gesetze eingeführt, in denen Atheisten als Terroristen definiert werden. In den neuen Anordnungen des Königshauses wird Terrorismus mit dem "Aufruf zu atheistischen Gedanken in jeder Form" gleichgesetzt, oder damit, "die Grundlagen der islamischen Religion in Frage zu stellen, auf der Saudi-Arabien beruht". Atheismus als Terrorismus zu betrachten und damit Ungläubige, die "Gedankenverbrechen" begehen, wie gewalttätige Terroristen zu behandeln, hat sich in Saudi-Arabien zur offiziellen Politik entwickelt.

'Saudis without religion' Facebook logo (photo: Facebook)
Atheistismus “undercover” und in engen Grenzen: Obwohl der Atheismus in Saudi-Arabien am Pranger steht und deren Anhänger mit drakonischen Strafen, ja sogar mit der Todesstrafe rechnen müssen, gibt es Webseiten wie die Plattform ′Saudis ohne Religion‘, was deutlich macht, dass nicht alle Aktivitäten von Atheisten im saudischen Königreich unterdrückt werden können.

In Artikel 4 der saudischen Anti-Terror-Gesetze wird präzisiert, wer im Königreich als Terrorist gilt, nämlich "jeder, der [terroristische] Organisationen, Gruppen, Vereine und Parteien unterstützt oder Sympathien zu ihnen bekundet, sie fördert oder sich unter ihre Schirmherrschaft stellt – sowohl innerhalb als auch außerhalb Saudi-Arabiens. Dies beinhaltet u.a. auch die Verwendung von Print- sowie audiovisuellen Medien und Internetseiten, von Inhalten in jeglicher Form, die Rückschlüsse auf die Positionen, Parolen und Symbole solcher Gruppen zulassen".

In einen Programm namens UpFront des Senders Al-Jazeera erklärt der saudische UN-Botschafter Abdallah Al-Mouallimi, warum die Verbreitung des Atheismus in Saudi-Arabien als terroristisches Vergehen geahndet wird: Er erklärte, sein Land würde Atheisten als Terroristen betrachten, weil Saudi-Arabien "eine besondere Nation" darstelle. "Wir sind das Geburtsland des Islam", so Al-Mouallimi. "Wir sind das Land, in dem sich in Mekka und Medina die beiden heiligsten Stätten der Muslime befinden. Wir sind das Land, das auf islamischen Prinzipien beruht. Und wir sind ein Land der Einheit, in dem die gesamte Bevölkerung den Islam anerkennt. Jeder Versuch, das islamische Gesetz oder die islamische Ideologie in Frage zu stellen, wird in Saudi-Arabien als Akt der Subversion betrachtet. Solche Zweifel könnten unser Fundament untergraben und unser Land ins Chaos stürzen."

Gesellschaftliche "Immunisierung" gegen den Atheismus

Anwar al-Ashqi, Präsident des Zentrums für Nahoststudien in Riad, betrachtet diese Gesetze dennoch nicht als Unterdrückung der Freiheit in Saudi-Arabien. Falls atheistische Einflüsse die traditionelle Verfasstheit der saudischen Gesellschaft in Frage stellten, was die Störung der öffentlichen Ordnung zur Folge hätte und diese Einflüsse sich ebenfalls grundsätzlich gegen die Religion richteten, sei dies als negativ zu bewerten und müsse folglich juristisch geahndet werden. Seiner Ansicht nach hat der Staat in diesem Fall "das Recht, diese Formen des Atheismus für unrechtmäßig zu erklären und als eine Art von Terrorismus zu behandeln".

Ebenso wie andere Golfstaaten nimmt Saudi-Arabien den Atheismus als Bedrohung wahr, die beseitigt werden muss. In den letzten Jahren gab es am Golf zahlreiche Konferenzen, Schulungen und Workshops zur "Immunisierung" der Gesellschaft - insbesondere der Jugend - gegen atheistische Ansichten. Ein weiterer Schritt in diese Richtung: die Gründung des Fachbereichs für Glaubens- und Religionsstudien der Al-Madina-Universität und des Yaqeen-Zentrums in Riad.

Yaqeen bedeutet "Gewissheit", und dieses Zentrum ist auf den Kampf gegen atheistische und nichtreligiöse Tendenzen spezialisiert. Laut Eigendarstellung verfolgt die Einrichtung das Ziel "beim Kampf gegen Atheismus und fehlender Religionszugehörigkeit auf lokaler und globaler Ebene eine führende Rolle zu spielen". Welche Maßnahmen das Zentrum ergreift, um diesen Auftrag zu erfüllen, ist bis heute vollkommen unbekannt.

Doch damit nicht genug: Im Oktober 2016 führte das saudische Bildungsministerium an den Schulen des Königreiches gar ein Regierungsprogramm mit dem Namen "Immunität" ein, um Verwestlichung, Atheismus, Liberalismus und Säkularismus bereits im Kindesalter nachhaltig vorzubeugen.

Hakim Khatib

© Qantara.de 2017

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Hakim Khatib ist Dozent für Journalismus, interkulturelle Kommunikation sowie Politik und Kultur des Nahen Ostens an der Fulda-Universität für Angewandte Wissenschaften und der Phillips-Universität Marburg. Sein Spezialgebiet ist die Integration der Religion in das politische Leben und politische Diskurse im Nahen Osten. Er ist Chefredakteur des Online-Journals "Mashreq Politics and Culture" (MPC Journal).