Notwendige Zuwanderung

Bisher hat die EU noch keine kohärente Migrationspolitik entwickelt. Doch eine sorgfältig gesteuerte Wirtschaftsmigration aus Nicht-EU-Ländern ist legitim und notwendig. Und zwar nicht, weil Migranten das Mitgefühl der Europäer verdienen, sondern weil Europa sie braucht. Von Ian Buruma

Von Ian Buruma

Es wird einem warm ums Herz, wenn Fußballfans mit Transparenten in den Händen Flüchtlinge herzlich willkommen heißen, die aus den vom Krieg zerstörten Ländern des Nahen Ostens in Deutschland ankommen. Deutschland ist das neue Gelobte Land für die Verzweifelten und Unterdrückten, die Überlebenden von Krieg und Plünderungen.

Sogar die beliebten deutschen Boulevardblätter, die normalerweise nicht durch einen Hang zur Weltverbesserung auffallen, werben für Hilfsbereitschaft. Während Politiker im Vereinigten Königreich und anderen Ländern die Hände ringen und erklären, warum schon ein relativ geringer Zustrom an Syrern, Libyern, Irakern oder Eritreern eine tödliche Gefahr für das soziale Gefüge ihrer Gesellschaften darstellt, hat "Mama Merkel" versprochen, dass Deutschland niemanden abweisen wird, der wirklich auf der Flucht ist.

Während Deutschland in diesem Jahr mit rund 800.000 Flüchtlingen rechnet, echauffiert sich der britische Premierminister David Cameron über weniger als 30.000 Asylanträge und warnte düster vor "Schwärmen an Menschen", die die Nordsee überqueren. Und, anders als Kanzlerin Merkel, trägt Cameron eine Mitverantwortung für das Schüren eines der Kriege (Libyen), die das Leben für Millionen unerträglich gemacht haben. Kein Wunder, dass Angela Merkel will, dass andere europäische Länder mehr Flüchtlinge nach einem verbindlichen Quotensystem aufnehmen.

Von der Zuwanderung profitiert

Trotz der sorgenvollen Worte seiner Politiker ist das Vereinigte Königreich eigentlich eine ethnisch gemischtere und in mancherlei Hinsicht offenere Gesellschaft als Deutschland. London ist ungleich weltoffener als Berlin oder Frankfurt. Und, alles in allem, hat Großbritannien von der Zuwanderung enorm profitiert. Der staatliche Gesundheitsdienst National Health Service hat sogar gewarnt, dass es katastrophal wäre, weniger Zuwanderer aufzunehmen, weil britische Krankenhäuser personell völlig unterbesetzt blieben.

Großbritanniens Premierminister David Cameron; Foto: Reuters
Abschottung statt gestalterische Einwanderungspolitik: Während Deutschland in diesem Jahr mit rund 800.000 Flüchtlingen rechnet, echauffiert sich der britische Premierminister David Cameron über weniger als 30.000 Asylanträge und warnte düster vor "Schwärmen an Menschen", die die Nordsee überqueren.

Es mag sein, dass eine außergewöhnliche Stimmung im heutigen Deutschland herrscht. Es ist noch nie einfach gewesen, die Aufnahme von Flüchtlingen, oder Zuwanderern überhaupt, politisch zu verkaufen. Ende der 1930er Jahre, als das Leben von Juden in Deutschland und Österreich auf dem Spiel stand, waren nur wenige Länder, unter anderem die Vereinigten Staaten, bereit, mehr als eine Handvoll Flüchtlinge aufzunehmen. 1939 ließ Großbritannien in allerletzte Minute rund 10.000 jüdische Kinder einreisen, aber nur, wenn ein Förderer für sie gefunden wurde und sie ihre Eltern zurückließen.

Es soll die großherzige Stimmung in Deutschland heute nicht herabsetzen, von einem Zusammenhang mit der mörderischen Vergangenheit der Deutschen zu reden. Auch die Japaner haben ein Erbe historischer Verbrechen übernommen, doch ihre Haltung gegenüber Ausländern in Not ist weit weniger einladend. Auch wenn nur wenige Deutsche eigene Erinnerungen an das Dritte Reich haben, verspüren viele trotzdem das Bedürfnis zu beweisen, dass sie aus der Vergangenheit ihres Landes gelernt haben.

Asylsuchende und Wirtschaftsmigranten über einen Kamm geschert

Aber die fast ausschließliche Fokussierung der Politiker und Medien auf die aktuelle Flüchtlingskrise versperrt den Blick auf weiter gefasste Fragen im Zusammenhang mit Zuwanderung. Die Bilder kläglich auf dem Meer dahintreibender Flüchtlingsfamilien, die habgierigen Schleusern und Verbrechern schutzlos ausgeliefert sind, erwecken Mitgefühl und Anteilnahme (und nicht nur in Deutschland). Aber die meisten Menschen, die über die Grenzen Europas kommen, um zu arbeiten und sich ein neues Leben auszubauen, sind keine Flüchtlinge.

Mit ihrer Aussage, es sei "eindeutig enttäuschend", dass die Zahl der Einwanderer im Vereinigten Königreich 2014 um rund 300.000 Menschen höher war als die Zahl derer, die das Land verlassen haben, ging es britischen Regierungsvertretern nicht in erster Linie um Asylsuchende. Die Mehrheit dieser Neuankömmlinge stammt aus anderen Ländern der Europäischen Union wie Polen, Rumänien und Bulgarien.

Einige kommen als Studenten, andere um Arbeit zu finden. Sie kommen nicht, um ihr Leben zu retten, sondern um es zu verbessern. Werden Asylsuchende und Wirtschaftsmigranten über einen Kamm geschert, bringt man Letztere in Verruf, als würden sie versuchen, sich unter einem Vorwand ins Land zu drängen.

Es ist eine weitverbreitete Annahme, dass es sich bei Wirtschaftsmigranten, aus Ländern innerhalb oder außerhalb der EU, vorwiegend um Arme handelt, die darauf aus sind, auf Kosten der Steuergelder der relativ reichen Länder zu leben. Tatsächlich sind die meisten von ihnen keine Schmarotzer. Sie wollen arbeiten.

Ian Buruma ist Professor für Demokratie, Menschenrechte und Journalismus am Bard College in New York; Foto: ianburuma.com
Ian Buruma ist Professor für Demokratie, Menschenrechte und Journalismus am Bard College in New York. Er ist Autor zahlreicher Bücher wie "Murder in Amsterdam: The Death of Theo Van Gogh and the Limits of Tolerance" und zuletzt "Year Zero: A History of 1945".

Die Vorteile für die Gastländer liegen auf der Hand: Wirtschaftsmigranten arbeiten häufig härter und für weniger Geld als Einheimische. Das ist gewiss nicht in jedermanns Interesse: Auf die Vorteile billiger Arbeitskräfte zu verweisen, wird jene, deren Löhne möglicherweise gedrückt werden, kaum überzeugen. Es ist in jedem Fall einfacher, an das Mitgefühl für Flüchtlinge zu appellieren als an die Aufnahmebereitschaft für Wirtschaftsmigranten. Sogar in Deutschland.

Quote für Flüchtlinge auch für Wirtschaftsmigranten

Im Jahr 2000 wollte der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder rund 20.000 ausländischen Hightech-Experten Green Cards erteilen, darunter viele Inder. Deutschland brauchte sie dringend, doch Schröder stieß prompt auf Widerstand. Ein Politiker prägte den Slogan "Kinder statt Inder".

Doch in Deutschland werden, wie in vielen anderen reichen Ländern auch, nicht genügend Kinder geboren. Diese Länder brauchen Einwanderer mit frischer Energie und Kompetenzen, um Arbeitsplätze einzunehmen, die Einheimische, aus welchen Gründen auch immer, nicht annehmen können oder wollen. Das bedeutet nicht, dass alle Grenzen für alle geöffnet werden müssen. Angela Merkels Konzept einer Quote für Flüchtlinge sollte auch auf Wirtschaftsmigranten angewendet werden.

Bisher hat die EU allerdings noch keine kohärente Migrationspolitik entwickelt. EU-Bürger haben das Recht sich innerhalb der Union frei zu bewegen (Großbritannien will, dass auch das aufhört, dürfte aber damit scheitern). Aber eine sorgfältig gesteuerte Wirtschaftsmigration aus Nicht-EU-Ländern ist legitim und notwendig. Und zwar nicht, weil Migranten das Mitgefühl der Europäer verdienen, sondern weil Europa sie braucht.

Es wird nicht einfach sein. Die meisten Menschen lassen sich offenbar leichter von Emotionen leiten – die sie, je nach den Umständen, zu Massenmord oder warmherzigem Mitgefühl bewegen können – als von einer rationalen Analyse dessen, was in ihrem eigenen Interesse wäre.

Ian Buruma

© Project Syndicate 2015

Aus dem Englischen von Sandra Pontow