Die Politisierung des Genozids

In jüngster Zeit hat der iranische Präsident mehrfach öffentlich Zweifel am Ausmaß des Holocaust geäußert, die teilweise auch in der arabischen Welt Echo fanden. Seriöse arabische Intellektuelle distanzieren sich allerdings von den revisionistischen Thesen. Von Fakhri Saleh

Von Fakhri Saleh

Ausstellung im Holocaust Museum Yad Vashem in Jerusalem; Foto: AP
Die Araber dürfen die Augen nicht vor der Judenvernichtung verschließen, mahnt der Literaturkritiker Fakhri Saleh

​​Die Äußerungen, mit denen Mahmud Ahmadinejad den Holocaust in Zweifel zog, stießen in der arabischen Welt zunächst auf irritierenden Widerhall. Nachdem der iranische Präsident die Judenvernichtung als "Mythos" bezeichnet hatte, schloss sich Mahdi Akif, der Führer der ägyptischen Muslimbrüder, dieser Ansicht an und bekundete Zweifel, dass sechs Millionen Juden dem Naziregime zum Opfer gefallen seien.

Khalid Mashal, ein führendes Mitglied der palästinensischen Hamas, erklärte unlängst bei einem Besuch in Teheran, dass er die Ansichten des iranischen Präsidenten teile. Mahdi Akif wie auch Mashal distanzierten sich jedoch in der Folge von ihren Äußerungen und konstatierten, der Holocaust sei "ein historisches Phänomen, das noch weiterhin gründlich erforscht werden muss".

Der Krieg von 1948 als Wendepunkt

Die Schwierigkeiten der arabischen Welt im Umgang mit dem Holocaust gehen auf die arabische Niederlage im Jahr 1948 und die Gründung des Staates Israel zurück. Eine komplexe Gemengelage also, in der sich Politik und Geschichte, Selbstbetrug und die Weigerung, das von anderen erlittene Unrecht wahrzunehmen, vermischen.

Die Leugnung des Holocaust wirft letztlich ein schlechtes Licht auf Araber und Palästinenser: So schrieb der Politikwissenschafter und vormalige kuwaitische Erziehungsminister Ahmad ar-Rabaa'i in der renommierten saudischen Zeitung "Ash-Sharq al-Awsat", dass die Leugnung eines derartigen Menschheitsverbrechens auf den Verlust ethischer und menschlicher Wertmassstäbe hindeute.

Wenn man das Leiden der Juden im Dritten Reich in Frage stelle, dann diene das lediglich der Stimmungsmache gegen Israel und der Hoffnung, sich die Sympathie der ungebildeten Schichten in den arabischen Ländern zu sichern. Anerkannte arabische Historiker stellen sich denn auch in der Regel nicht hinter die revisionistischen Thesen.

Übernommene Ideen

Die extremste, ja fanatischste Stimme unter den arabischen Holocaust-Leugnern ist Ibrahim Alloush, ein gebürtiger Palästinenser, der an einer jordanischen Universität politische Wissenschaften lehrt. Ohne sich um eigene Recherchen zu bemühen, zelebriert er die Lehren revisionistischer Historiker aus Europa und Amerika und bezeichnet den Holocaust als die "imaginäre Vernichtung von sechs Millionen Juden".

In einer arabischsprachigen Publikation, die auch im Internet zu finden ist, vertritt er die These, dass unter den 45 Millionen Toten, die der Zweite Weltkrieg forderte, nur ein paar hunderttausend Juden waren. Im Gleichen attackiert er die Gruppe namhafter arabischer Intellektueller, die im März 2001 ein Manifest gegen die Durchführung einer Konferenz revisionistischer Historiker in Beirut unterzeichneten.

Hochkarätige Denker und Literaturschaffende wie die Literaturwissenschafter Edward Said und Mohammed Barada, die Lyriker Mahmud Darwish und Adonis, der Romancier Elias Khoury und der Historiker Elias Sanbar forderten den damaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri auf, dem unwürdigen Anlass augenblicklich einen Riegel zu schieben; die Konferenz fand nicht statt.

Wie Ibrahim Alloush übernehmen die meisten arabischen Historiker, Kommentatoren, Journalisten und Politiker, die revisionistische Thesen vertreten, diese von westlichen Autoren wie Roger Garaudy, David Irving und Robert Faurisson; allerdings gibt es auch arabische Historiker, die sich selbst mit der westlichen Holocaust-Forschung auseinandersetzen. Der bekannteste unter ihnen ist der ägyptische Literaturwissenschafter und Historiker Abdel Wahab al-Missiri, der jahrelang im Dienste der Uno tätig war.

Al-Missiri publizierte mehrere Bücher zum Thema und eine mehrbändige Enzyklopädie über Juden, Judentum und Zionismus. Seine Bücher wirken in der Regel sorgfältig recherchiert und dokumentiert, sind aber deutlich geprägt von der vorgefassten Idee einer jüdischen Weltverschwörung. In "As-Suhuniya, an-Naziya wa Nihayat at-Tarich" ("Zionismus, Nazitum und das Ende der Geschichte") klagte er 1997 die Zionisten an, die Opferrolle zu monopolisieren.

Den Holocaust sieht al-Missiri als Produkt einer generell zerstörerischen Mentalität, die sich im Lauf der Aufklärung und der Moderne herausgebildet habe und im Europa des 20. Jahrhunderts zum Ausbruch gekommen sei. Al-Missiri stellt den Holocaust zwar nicht in Frage; er bezeichnet ihn aber als ein Phänomen, das im europäischen Kontext behandelt werden müsse und nicht auf die Geschichte des Nahen Ostens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts projiziert werden dürfe.

Ein Produkt der westlichen Zivilisation?

Auf diese Thesen, die er auf ein breites historisches Fundament abstützt, kommt al-Missiri in der zuvor erwähnten Enzyklopädie über das Judentum zurück. Er versucht darin, die moderne jüdische Geschichte als integralen Teil der westlichen Historie darzustellen. Das Potenzial zur gezielten, massenweise Auslöschung und Vernichtung von Menschen sieht er als Spezifikum der westlichen Zivilisation. Aufgrund dieser fragwürdigen Idee mit ihrer Spenglerschen Aura vom "Untergang des Abendlandes" zieht er es vor, von der "Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten" zu sprechen; den Ausdrücken "Shoah" oder "Holocaust" schreibt er eine jüdisch-religiöse Prägung zu, die das Ereignis aus seinem spezifischen historischen und zivilisatorischen Kontext löse.

Der Begriff "Vernichtung" impliziert für al-Missiri auch Strategien wie Vertreibung und Deportation, denen unter der Naziherrschaft nicht nur die Juden, sondern auch die Roma und andere "nichtarische" Gruppen ausgesetzt waren. In die Debatte über die Zahl der jüdischen Opfer des Holocaust hat sich al-Missiri nicht eingemischt; allerdings setzt er die heute als verbindlich geltende Zahl von rund sechs Millionen lediglich als Maximalwert in einer zwischen vier und sechs Millionen schwankenden Schätzung.

Zwar bestreitet al-Missiri nicht, dass eine adäquate Einschätzung des Nahostkonflikts ohne Einbezug des Massenmords an den Juden nicht möglich sei; doch übt er im Gleichen heftige und aus westlicher Sicht auch tendenziöse Kritik an der "Instrumentalisierung" des Holocaust für eine israelische Interessenpolitik zulasten der Palästinenser. Freilich wird auch ein objektiver Betrachter die Zusammenhänge zwischen dem Leiden der Palästinenser und der in der arabischen Welt weit verbreiteten, sozusagen reflexartigen Verneinung des Holocaust nicht von der Hand weisen können.

Die Araber, und mit ihnen die Palästinenser, dürfen die Augen nicht vor der Judenvernichtung verschließen. Und es wäre durchaus denkbar, dass eine dauerhafte Friedenslösung, die Räumung der besetzten Gebiete in Cisjordanien und das Entstehen eines lebensfähigen Palästinenserstaats die Sicht von arabischen Politikern, Intellektuellen und Medienschaffenden auf den Holocaust deutlich verändern würden.

Fakhri Saleh

© Neue Zürcher Zeitung 2006

Fakhri Saleh ist Literaturkritiker und regelmäßiger Mitarbeiter von "Al-Hayat" und anderen arabischen Tageszeitungen.