Die Wolken über Tschetschenien

Der tschetschenische Dichter Apti Bisultanov lebt seit zwei Jahren in Deutschland, nachdem er als Partisan im Tschetschenien-Krieg gekämpft hatte. Sieglinde Geisel hat ihn getroffen.

Der tschetschenische Dichter Apti Bisultanov lebt seit zwei Jahren in Deutschland, nachdem er als Partisan im Tschetschenien-Krieg gekämpft hatte. Experimente mit traditionellen Genres der tschetschenischen Literatur findet man in seinen Gedichten ebenso wie freie Verse. Religion und Poesie lassen sich nicht trennen, meint Bisultanov. Sieglinde Geisel hat ihn getroffen.

Apti Birsultanov, Foto: Ekkehard Maass
Apti Birsultanov

​​Von Beruf Redaktor und Lektor, war Apti Bisultanov im ersten Tschetschenienkrieg noch Dichter geblieben. Als 1999 jedoch der zweite Tschetschenien-Krieg ausbrach, wollte er nicht wieder Opfer sein und schloss sich den Kämpfern an, bis er drei Jahre später sein Land verliess.

Was dies für ihn bedeutete, kann man den Anfangszeilen des Gedichts entnehmen, das er diesem Abschied widmete: "Mit beiden Händen das Herz fassen / Diesen alten Igel / Und alle Wunden mit der Schusterahle / Fest vernähn wie man Stiefel flickt."

Von Kindheit an habe er in der Poesie gelebt, sagt Apti Bisultanov, und wie immer, wenn er von der Poesie spricht, hellt sich sein Gesicht auf. Nur die Umstände hätten ihn zur Politik gebracht, "wenn man es überhaupt so nennen soll", und er hofft, sich in seinem Leben irgendwann wieder ganz der Kunst widmen zu können. In Tschetschenien würden jetzt kaum mehr Gedichte gelesen.

"Die Schönheit der Poesie hat mit dem wirklichen Leben der Menschen nichts mehr zu tun", sagt Bisultanov. "Es heisst, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich. Und dies gilt auch für Tschetschenien." Bisher sind von ursprünglich einer Million Tschetschenen 200 000 Menschen Opfer des Krieges geworden. Und doch sei im zerstörten Tschetschenien mehr Poesie übrig als im Westen. "Hier gibt es kein Geheimnis, kein Sakrament. Alles ist standardisiert."

Beslan als Spiegel

Gegenüber dem Westen hat Apti Bisultanov keinerlei Naivität - er ist sich bewusst, dass er mit seinen Erfahrungen und Haltungen nicht in das Milieu der westlichen Intellektuellen passt. Die Gedichte seines Bandes "Schatten eines Blitzes" entstammen einer Welt, in der die Religion alle Fasern des Seins durchwebt.

"Religion und Dichtung sind eins, das ist für mich überhaupt keine Frage. Gott hat die Welt geschaffen wie ein Gedicht." Für einen religiösen Menschen gibt es keine Zufälle, und so erkennt Bisultanov auch im Tschetschenien-Krieg einen tieferen Sinn. "Künde der Welt, die Tschetschenien opfert, / Dass für die Welt Tschetschenien brennt", heisst es in einem der wenigen Gedichte, die er während des Krieges geschrieben hat.

"In Tschetschenien liegt die Welt offen zutage", erklärt er. "Man erfährt die Wahrheit über das Verhältnis der Russen zu den Tschetschenen, der Russen untereinander, der Tschetschenen untereinander. Und in ihrem Schweigen zum Krieg zeigt auch die übrige Welt ihr wahres Gesicht."

Erst wenn Kinder getötet würden, interessiere sich die Welt für den Konflikt - dies habe die Geiselnahme von Beslan offenbart. Für die tschetschenischen Opfer jedoch interessiere man sich auch dann nicht, wenn Kinder umgebracht würden. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sind in den vergangenen fünf Jahren mindestens 40.000 Kinder umgekommen.

"Aber auch wenn es 30.000 wären, oder 1.000, oder nur eines - es sterben Kinder", sagt Bisultanov, der selbst Vater ist. "Beslan war bisher die grausamste, schrecklichste Widerspiegelung des tschetschenischen Kriegs. Beslan ist Tschetschenien."

Die Gleichgültigkeit des Westens habe auch mit der Religionszugehörigkeit der Tschetschenen zu tun: Wären die Tschetschenen keine Muslime, würde der Westen anders reagieren.

Kein Religionskrieg

Dass religiöse Gründe jedoch für den Krieg selbst eine Rolle spielen, weist Bisultanov entschieden zurück. Es handle sich um den Widerstand gegen eine Besetzungsmacht, alles andere sei pure Propaganda. Die Zahl der ausländischen Kämpfer auf tschetschenischer Seite schätzt er auf zehn bis höchstens zwanzig, und dass sich vor allem die junge Generation den Islamisten zuwende, sei eine Folge des Krieges - der Westen jedenfalls habe ihnen bisher keine Hoffnung gegeben.

Von der Leidensgeschichte des tschetschenischen Volks zeugt die Geschichte jeder einzelnen Familie. Bisultanovs Vater kämpfte in der Roten Armee und wurde, trotz einer Verwundung, im Februar 1944 direkt von der Front als "Volksfeind" mit dem gesamten tschetschenischen Volk nach Kasachstan deportiert.

Fünf der zehn Kinder verhungerten, und Apti war als Jüngster der Einzige, der 1959 wieder in der Heimat geboren wurde. Er war sechs Jahre alt, als der Vater an seiner Kriegsverletzung starb. Seine Mutter ist letztes Jahr 89-jährig gestorben, nachdem sie die vollständige Zerstörung ihres Dorfs Goitschu miterlebt hatte.

Im Winter 2.000 wurde es von russischen Soldaten umstellt. Die Frauen, Kinder und Alten wurden auf ein schneebedecktes Feld getrieben, wo sie zehn Tage unter freiem Himmel ausharren mussten, ohne Essen und Trinken.

Bei lebendigem Leib verbrannt

Das Poem "Chaibach" ist vor zwanzig Jahren entstanden, und es gehört zu jenen Gedichten Bisultanovs, die man ohne Kenntnis der tschetschenischen Geschichte nur als Schatten wahrnimmt. Als die Sowjets im Februar 1944 in das Dorf Chaibach kamen, konnten sie die Bewohner wegen des hohen Schnees nicht deportieren. So sperrten sie 700 Menschen in einen Stall und verbrannten sie dort lebendigen Leibes.

Apti Bisultanov rezitiert einige Strophen des vielgestaltigen Langgedichts in seiner Muttersprache, die mit ihren Kehllauten und den Vokalverbindungen für europäische Ohren vollkommen fremd klingt; man hört sofort, wie stark sich die traditionellen Genres, mit denen er experimentiert, in Rhythmus und Kadenz unterscheiden.

Neben solchen national gefärbten Gedichten gibt es andere, die auch für nicht-tschetschenische Leser unmittelbar verständlich sind. Die Kraft der Bilder lässt ahnen, dass Bisultanov in seiner Dichtung "an einen Ort gelangt, wo noch niemand war", wie Joseph Brodsky die Aufgabe des Dichters formulierte.

Man liest etwa von Gedanken, die als "weisse Lämmer" nachts "auf den blauen Wiesen meiner Träume" weiden. Ein zentrales Motiv ist das Herz: "Das runde Nest im Geäst / Mein Herz / Im Rippengestrüpp", heisst es im Gedicht "Röntgen". Kaum je ist das Herz ein Hort privater Gefühle. Es ist "gewaltiger als die Welt", und es schlägt für das Schicksal des ganzen Volkes.

Das Herz ist Sitz der Tapferkeit und eines unbeugsamen Stolzes, der auch Apti Bisultanovs Haltung bestimmt, übrigens ohne jedes Pathos. Die Anekdoten, die er aus dem Krieg erzählt, bezeugen den Freiheitswillen der Tschetschenen, die in ihrer Geschichte nie feudale Strukturen kannten.

Mann gegen Mann

"Ich sage es ganz offen", meint Bisultanov: "Es gefällt mir, wenn Männer Männer sind und keine Sekunde davor zurückscheuen, für ihre Überzeugung in den Tod zu gehen." Nicht jeder allerdings, der für seine Überzeugung sterbe, beweise damit Mut. Terroranschläge und Geiselnahmen lehnt Bisultanov strikte ab, abgesehen davon, dass nicht viel dazu gehöre, ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer zu steuern. Mut entscheide sich im Kampf Mann gegen Mann.

Der Krieg ist für Apti Bisultanov kein Tabu, sondern eine Erfahrung. Als er in den Krieg gezogen sei, habe er aufgehört zu rauchen und auch sonst keine Sünden begangen, denn er wollte mit reinem Herzen vor den Schöpfer treten.

"Im Krieg sind die Dinge das, was man sie nennt. Ein Feind ist ein Feind, ein Freund ein Freund. Schmerz ist Schmerz, und Freude ist wirklich Freude." Dann allerdings bleibt kein Raum für poetische Metaphern. Damals habe er gedacht, er werde nie wieder Gedichte schreiben.

Erst als er vor zwei Jahren direkt aus den tschetschenischen Wäldern nach Berlin ans Literaturfestival kam, sah er die Dinge anders. Im Publikum seiner Lesung sassen, neben einem Dutzend Exil-Tschetschenen, nur ein paar wenige Deutsche.

Diese jedoch bekamen etwas zu hören, was sie noch nie gehört hatten. Mit geschlossenen Augen rezitierte der Dichter-Partisan, gezeichnet von den Entbehrungen der Wälder, das Poem "Chaibach". Es war eine Begegnung mit der Ästhetik einer anderen Welt.

"Ich bin den Deutschen wohl zu archaisch", meint Bisultanov mit einer Ironie, die seiner Distanz zum Westen die Schärfe nimmt. "Als der Computer erfunden wurde, haben die Wolken nicht aufgehört, über den Himmel zu ziehen. Warum sollte ich verschwinden?"

Sieglinde Geisel

© Neue Zürcher Zeitung, 18./19. September 2004