Ein Guantánamo im eigenen Hinterhof

Großbritanniens Oberstes Gericht hat die Inhaftierung von Terrorverdächtigen ohne Anklage als unrechtmäßig erklärt und scharf verurteilt. Einzelheiten von Tareq Al-Arab aus London.

Großbritanniens Oberstes Gericht hat die Inhaftierung von Terrorverdächtigen ohne Anklage als unrechtmäßig erklärt und scharf verurteilt. Die Regierung Blair muss nun handeln, zeigt sich aber stur. Einzelheiten von Tareq Al-Arab aus London.

Foto: AP
Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh

​​Maßgebliche Teile der Anti-Terror-Gesetze müssen revidiert werden. Acht von neun Lordrichtern nannten die vom jüngst wegen einer Affäre zurückgetretenen Innenminister David Blunkett eingeführte Praxis, nichtbritische Staatsbürger auf Verdacht auf unbestimmte Zeit und ohne Gerichtsverfahren zu inhaftieren, unvereinbar mit den demokratischen Rechten und internationalen Verpflichtungen Großbritanniens.

"Gefangenschaft auf unbestimmte Zeit auf Basis von Geheiminformationen ist der Stoff, aus dem Alpträume sind", so einer der Lordrichter Lord Scott von Foscote in der Urteilsverkündung. "Wir assoziieren damit Frankreich während oder vor der Revolution, die Sowjetunion unter Stalin und nun, dank Sektion 23 des Anti-Terror-Gesetzes, das Vereinigte Königreich."

Die Lordrichter kamen zu dem Schluss:"Die Gerichte müssen sicherstellen, dass Menschenrechte nicht missachtet werden, so wie es hier der Fall ist."

Bruch mit Rechtsstaatsprinzipien

Bisher waren in Großbritannien - laut Abschnitt 4 des "Anti-Terrorism, Crime & Security Act 2001" - so genannte "vernünftige Gründe" für den Verdacht auf terroristische Aktivitäten ausreichend für eine Inhaftierung.

Wer diesem Verdacht ausgesetzt war, wurde inhaftiert ohne Anklage, ohne Gerichtsverhandlung und ohne Verurteilung auf unbestimmte und potentiell unbegrenzte Zeit. Diese Regelung gilt allerdings nur für Ausländer, britische Staatsbürger sind von diesem Gesetz ausgenommen.

Amnesty International nannte diese Praxis wiederholt "ein Guantánamo in unserem eigenen Hinterhof" und die Haftbedingungen in Belmarsh, dem Hochsicherheitsgefängnis, in dem die meisten Verdächtigen festgehalten werden, als "grausam, inhuman und erniedrigend".

Menschenrechtsorganisationen hatten die englische Regierung mehrmals dazu aufgefordert, alle Insassen, die aufgrund des Anti-Terror-Gesetzes verhaftet wurden, freizulassen oder ihnen einen fairen Prozess nach internationalen Standards zu ermöglichen.

Gleich mehrere parlamentarische Ausschüsse hatten die Regierung Blair dazu gedrängt, Terrorismus nicht mit Sondergesetzen, sondern im Rahmen herkömmlicher Strafgesetze zu bekämpfen.

Keine Hintertür für die Regierung

Auch die Vereinten Nationen hatten klar Stellung bezogen. Erst vor wenigen Tagen hatte das UNO-Komitee gegen Folter London "dringend" dazu aufgefordert, das Anti-Terror-Gesetz von 2001 zu revidieren.

Die Entscheidung der neun Lordrichter ist nun zum ersten Mal zwingend für die Blair-Regierung. "Die Regierung kann hiergegen keinen Widerspruch einlegen. Es bleibt ihr diesmal kein Fluchtweg offen", erklärt Anwältin Gareth Peirce, die die acht der Insassen vertritt.

Noch befinden sich elf mutmaßliche "internationale Terroristen" in englischen Gefängnissen. Dabei handelt es sich ausnahmslos um ausländische Staatsbürger, die meisten von ihnen stammen aus arabischen Ländern.

Die britische Tageszeitung The Guardian berichtet, dass die Gefangenen in 3 Meter mal 1,8 Meter großen Zellen leben, die sie 22 Stunden am Tag nicht verlassen dürfen und kaum Tageslicht sehen. Peirce beschreibt den Grad der Verzweiflung ihrer Mandanten als "unbeschreiblich groß".

In einem erst kürzlich veröffentlichten psychologischen Gutachten heißt es, mehrere Gefangene hätten versucht, sich umzubringen oder selbst zu verletzen und litten unter teils schweren Psychosen.

"Die Gefangenen hatten alle Hoffnung verloren und gingen davon aus, für immer in Gefangenschaft zu bleiben", erklärt Peirce. "Die Tatsache, dass die Haft auf unbestimmte Zeit festgelegt wurde, hat vier der Gefangenen in den Wahnsinn getrieben. Drei von ihnen mussten in das Hochsicherheitskrankenhaus Broadmoor verlegt werden."

"Warum erhebt man nicht Anklage gegen mich?"

Das Innenministerium hat den Insassen ein striktes Redeverbot mit der Presse erteilt. Erst nachdem der Guardian monatelang vor Gericht geklagt hatte, wurde ihm als einziges Medium ein Interview mit einem der Insassen gewährt.

In dem Interview beklagt der Palästinenser Mahmoud Abu Rideh: "Ich bin kein Terrorist. Ich würde jeden Bombenanschlag verhindern, wenn ich könnte. Ich glaube nicht an Terrorismus. Warum erhebt man nicht einfach Anklage gegen mich?"

Grundlage der Inhaftierung sind geheimdienstliche Beweise über terroristische Aktivitäten der Betroffenen, die allerdings so geheim sind, dass sie weder den Inhaftierten noch ihren Anwälten zugänglich gemacht werden und sich deshalb auch nicht anfechten lassen.

"Absoluter Müll" nennt Peirce die Vorwürfe, die ihr auf Grundlage der Geheimdienstinformationen vorgetragen wurden. Sie würden einer genauen Überprüfung bei Tageslicht niemals standhalten.

"Demnach wäre jeder ein internationaler Terrorist oder ein Unterstützer des internationalen Terrorismus, der mit Personen in Zusammenhang gebracht werden könnte, die wiederum Kontakte zu Personen hätten, die Extremisten sind und in Verbindung gebracht werden könnten mit Gruppen, die Verbindungen zu al-Qaida haben."

Auch Amnesty International zeigt sich besorgt darüber, dass geheimdienstliche Informationen als verlässliche Indizien eingestuft wurden.

Haft ohne Verhör

Eigentümlicherweise werden die Häftlinge unter dem Verdacht, "internationale Terroristen" zu sein, zwar festgehalten, anders als die Häftlinge in Guantánamo wurden sie aber zu keinem Zeitpunkt verhört.

In einem offenen Brief, unterzeichnet mit "Die vergessenen Gefangenen", fragen die Insassen von Belmarsh: "Warum hat nie jemand mit uns gesprochen? Warum wurde uns niemals eine einzige Frage gestellt bevor wir als Terroristen eingesperrt wurden?"

Obwohl die Gefangenen als Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuft werden, erklärt die Regierung, ihnen stünde es jederzeit frei, in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

Dass die meisten Insassen von ihrem Recht in ihr Herkunftsland zurückzukehren keinen Gebrauch machen, liegt daran, dass sie zum überwiegenden Teil Asylbewerber sind und zuvor aus ihrer Heimat flüchteten.

"Aus denselben Gründen, aus denen die Gefangenen das Land nicht freiwillig verlassen, kann die Regierung sie nicht einfach ausweisen", erklärt Natalia Garcia von der Anwaltskanzlei Tyndallwoods, die ebenfalls einige der Inhaftierten vertritt.

Kritiker des Gesetzes befürchten, dass die belastenden Geheimdienstinformationen aus der Hand eben jener Regime stammen, vor denen die Insassen geflüchtet sind

Kritik an den USA in neuem Licht

Erst kürzlich hatte ein hohes britisches Regierungsmitglied scharfe Kritik an der Lager-Politik der USA in Guantánamo geübt. Lord Charles Falconer, Staatsminister für Verfassungsfragen, sagte, er halte die Politik Washingtons in Hinblick auf den rechtlichen Status der Gefangenen im Lager Guantánamo Bay für inakzeptabel.

Der enge Vertraute von Premier Tony Blair, lange Zeit ein Unterstützer von Amerikas Anti-Terror-Maßnahmen, sagte, es könne nicht angehen, wenn Menschen faktisch aus dem Geltungsbereich des bürgerlichen Rechts ausgesiedelt würden.

Spätestens jetzt erscheint die Aussage Lord Falconers in einem neuen Licht. Laut der Entscheidung der Lordrichter verstößt die britische Regierung selbst gegen bürgerliches Recht und steht somit unter Zugzwang, die Anti-Terror-Gesetze zu ändern.

Trotz aller Hoffnung reagiert Livio Zilli, Sprecher von Amnesty International UK, verhalten auf den Richterspruch: "Die Lordrichter haben deutlich signalisiert, dass solche Gesetze in der Zukunft nicht mehr entworfen werden sollten. Aber um das zu erreichen, was die Regierung mit den Anti-Terror-Gesetzen erreichen wollte, wird sie wahrscheinlich andere schon bestehende Gesetze nutzen."

Die Lordrichter selbst können das Gesetz nicht für ungültig erklären. Der designierte Innenminister Charles Clarke - beziehungsweise das Parlament - muss nun entscheiden, was mit dem Teil des Gesetzes geschehen soll, an dem die Richter Anstoß genommen haben.

Die Inhaftieren bleiben so lange im Gefängnis. Derweil hat Charles Clarke deutlich gemacht, dass die Maßnahmen zunächst "in Kraft bleiben würden" und er nicht vorhabe, die Gefangenen freizulassen, sondern höchstens das bestehende Gesetz zu "erneuern".

Tareq Al-Arab

© Qantara.de 2004

Weitere Einzelheiten und Hintergründe auf der Homepage von Amnesty International UK