Blutige Erpressung im Zweistromland

Im Irak richten sich die Anschläge der Al Qaida zunehmend gegen die sunnitische Sahwa-Miliz, die gemeinsam mit den Regierungstruppen gegen die Terroristen kämpft. Dabei ist die Botschaft der Al Qaida eindeutig: Sie möchte sich an den abtrünnigen Kämpfern rächen und sie auffordern, wieder die Seiten zu wechseln. Aus Bagdad berichtet Birgit Svensson.

Amerikanischer Soldat vor einem zerstörten Haus in Bagdad; Foto: AP
Rache als Motiv: Die Attentate der Al Qaida auf die mit der US-Armee zusammenarbeitende Sahwa-Miliz sind Rachefeldzüge gegen die vermeintlichen Verräter aus den eigenen sunnitischen Reihen.

​​ Dieses Mal waren die Sunniten dran. Während am vergangenen Wochenende Bombenanschläge gegen pilgernde Schiiten in Bagdad verübt wurden, reihte sich an diesem Sonntag ein Selbstmordattentäter in die lange Schlange wartender Sunniten im Südwesten der irakischen Hauptstadt ein, zündete seinen tödlichen Gürtel, riss mehr als 40 Menschen mit sich in den Tod und verletzte ebenso viele.

Die Toten waren mehrheitlich Kämpfer der sunnitischen Sahwa-Miliz, die in einer Allianz mit den Amerikanern erfolgreich die Al Qaida bekämpfen und in dem Moment in der Schlange standen, um ihren Sold abzuholen.

In der sunnitischen Provinz Anbar, ebenfalls westlich von Bagdad und früher eine Hochburg der Al Qaida, brachte ein weiterer Selbstmörder fünf Menschen um. Schon in den letzten Wochen war es in Anbar wieder vermehrt zu Angriffen auf Verantwortliche der Sahwa gekommen.

Das Signal ist eindeutig: Rache an den Abtrünnigen und die Aufforderung, wieder die Seiten zu wechseln. Im Irak stehen die Sunniten damit doppelt unter Druck: Hier, wie im Iran, sind die Schiiten in der Mehrheit, und die sunnitische Al Qaida schlägt darum besonders wahllos um sich - nun auch gegen die eigenen Glaubensbrüder.

Scheich Matlab Ali al-Mesari hat das vorausgesehen. Ohne Rotra - das traditionelle, im Sommer weiße, im Winter rot-weiß karierte Tuch - sitzt er ernüchtert im schlichten Anzug und Krawatte am Schreibtisch und hat unzählige kleine Teetassen um sich herum angesammelt.

Spaltung der Sunniten

"Die Sunniten sind tief gespalten, und das ist nicht gut", erklärt er sorgenvoll. Die politische Situation sei instabil, sie wüssten nicht, ob sie überhaupt an der nächsten Regierung beteiligt sein werden. Er habe sich immer vor zu großer Nähe sowohl zu den Amerikanern als auch zu der Regierung gefürchtet und damit seine Unabhängigkeit bewahrt, erzählt der Scheich.

Moschee in Bagdad; Foto: AP
Scheich Matlab Ali al-Mesari bedauert eine "tiefe Spaltung der Sunniten" im Irak. Zwar hat sich die Sicherheitslage zuletzt verbessert, doch die Stimmung bleibt explosiv und gefährlich.

​​ Als Präsident der "Vereinigung patriotischer Stämme des Irak" wollte er sich nicht parteipolitisch vereinnahmen lassen. Trotzdem habe er sich damals entschieden, bei den Provinzwahlen im Januar 2009 zu kandidieren, damit die Stämme auch in der Politik mitreden können. Scheich Matlab erhielt einen Sitz im Provinzrat von Bagdad.

Dass sich die Sicherheitslage im Irak seit 2007 deutlich verbessert hat, liegt zu einem Großteil daran, dass es der Regierung und den USA gelang, die irakischen Stämme zu aktivieren und als Bündnispartner im Kampf gegen den Terror zu gewinnen.

Geburt der Sahwa-Kämpfer

Ausgehend von der Provinz Anbar, war dies der entscheidende Beitrag zur Eindämmung und zumindest teilweise gelungenen Vertreibung der Al Qaida. Wie aus einem Strategiepapier der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft von 2008 hervorgeht, hat das sunnitische Terrornetzwerk nicht nur Kämpfer vom Irak nach Afghanistan umgeleitet, sondern auch Teile ihres Führungskaders. Damit habe Al Qaida selbst die Bedeutung der mit den US-Truppen kooperierenden sunnitischen Stammesgruppen anerkannt, wie die Verfasserin des EU-Dokuments, Gudrun Harrer, schreibt.

Irakischer Ministerpräsident Nuri al-Maliki; Foto: AP
Die Verhaftung sunnitischer Stammesangehöriger im Vorfeld der Parlamentswahlen widerspreche "dem Versöhnungsgedanken, den Premier Maliki immer hochhält", kritisiert al-Mesari.

​​ "Using the Sheikhs" wurde diese Politik der Amerikaner genannt, "die Scheichs benutzen". Den sunnitischen Terroristen wurde so der Boden entzogen. 103 000 Iraker waren beim US-Militär Ende 2008 offiziell als so genannte Söhne des Irak registriert. So tauften die Amerikaner die Sahwa-Kämpfer, denen sie durchschnittlich 300 Dollar im Monat zahlten.

Im Zuge des allmählichen Rückzugs der US-Truppen soll nun die irakische Regierung die Verantwortung und Bezahlung übernehmen. Doch dieser Verpflichtung kommt sie nur unzureichend nach.

Scheich Matlab erinnert auch daran, dass es vor den Parlamentswahlen am 7. März eine Verhaftungswelle von sunnitischen Stammesangehörigen gab, die angeblich "Blut an den Fingern" hätten: Sie werden beschuldigt, mit den Aufständischen und Al Qaida gemeinsame Sache gemacht zu haben. "Das widerspricht doch dem Versöhnungsgedanken, den Premier Maliki immer hochhält", kritisiert der Scheich.

Groll gegen die amerikanische Besatzung

Einer, der nicht versöhnt, sondern spaltet, sitzt heute in Jordaniens Hauptstadt Amman. Scheich Harith al-Dhari gilt als der ideologische Kopf des sunnitischen Aufstands im Irak. Er rief schon früh dazu auf, den "Besatzern jegliche Unterstützung zu versagen und ohne legitimen Grund keine Kontakte zu ihnen zu unterhalten".

Scheich Harith al-Dhari; Foto: AP
Kein Versöhner: Scheich Harith al-Dhari, der als ideologischer Kopf des sunnitischen Aufstands im Irak gilt, verweigert jegliche Zusammenarbeit mit der irakischen Regierung und den ausländischen Mächten.

​​ Auch heute noch ist sein Groll gegen die Amerikaner und die irakische Regierung ungebrochen, obwohl die Zahl seiner Anhänger erheblich geschmolzen ist, seit er im Exil lebt. Die irakische Regierung wirft ihm vor, die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten in den Jahren 2006 und 2007 angeheizt zu haben, und sucht ihn per Haftbefehl.

Doch Harith al-Dhari hat inzwischen neue Feinde: die Sahwa-Miliz. Sie seien den Amerikanern und den "Zionisten" auf den Leim gegangen, schimpft er mit lauter Stimme ins Telefon. Sie hätten dazu beigetragen, dass der Widerstand im Irak gebrochen wurde. Und dann bedenkt er seine ehemaligen Stammesgenossen und Gefolgsleute mit allerlei bösen Schimpfworten.

Birgit Svensson

© Qantara.de 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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