Eine Art schwarzes Zeitalter

Der Anschlag auf den Schrein des Lal Shahbaz Qalandar im pakistanischen Sehwan hat die Mystiker des Landes im Herzen ihrer Glaubenspraxis getroffen. Der Schrein ist wie kein anderes Heiligtum in Pakistan Symbol des religiösen Pluralismus, der fest im Land verwurzelt ist. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Der Dhamal, ekstatischer Wirbeltanz der pakistanischen Sufis, ist eine der buntesten und lebendigsten Ausprägungen der muslimischen Spiritualität. Wenn sich die langhaarigen Derwische des Subkontinents zu rasanten Trommelschlägen in die Transzendenz drehen, löst sich die individuelle Persönlichkeit für einen Moment auf. Die Einheitserfahrung wird von vielen Sufis als Höhepunkt im Streben nach Gott beschrieben.

Als am Donnerstag, den 16. Februar, ein Selbstmordattentäter des IS im Schrein von Lal Shahbaz Qalandar im pakistanischen Sehwan 88 Menschen in den Tod riss, waren dort Hunderte Pilger zum abendlichen Dhamal-Ritual versammelt. Der Sufi-Schrein in der Provinz Sindh ist unter dem Titel “Sehwan Sharif” weit über die Landesgrenzen bekannt.

Die Figur des Lal Shahbaz Qalandar, Gelehrter und Dichter aus dem 12. Jahrhundert, spielt in der Identitätsbildung der südasiatischen Sufis eine wichtige Rolle. Nach seinem Tod wurde der Mystiker von den Hindus im Sindh mit der Gottheit “Jhule Lal” identifiziert, deren Beinamen er bis heute trägt. Im Repertoire der Qawwali-Sänger gibt es mehrere Lieder über Lal Shahbaz Qalandar, von denen “Dama Dam Mast Qalandar” so etwas wie eine universelle Sufi-Hymne geworden ist.

Lal Shahbaz Qalandar - Symbol für Pakistans religiösen Pluralismus

In Pakistans nicht abreißender Kette von Terrorattentaten sind Sufi-Schreine ein wiederkehrendes Anschlagsziel. Besonders traumatisch war für die pakistanischen Sufis der Anschlag auf den Schrein von Data Ganj Bakhsh im Herzen von Lahore, bei dem 2010 über 40 Menschen ums Leben kamen. In den Jahren danach wurden in allen Landesteilen Anschläge gegen Sufis verübt, zuletzt im vergangenen November im Schrein von Shah Nurani in der westlichen Provinz Balutschistan.

Der Schrein in Sehwan ist wie kein anderes Heiligtum in Pakistan Symbol des religiösen Pluralismus, der fest im Land verwurzelt ist. Religiöse Minderheiten sind am Grab des Lal Shahbaz Qalandar nicht nur willkommen - einer der Wächter, die den Schrein in familiärer Erbfolge betreuen, ist bis heute ein Hindu. Nicht nur das: Frauen tanzen beim Dhamal-Ritual gemeinsam mit Männern. Die sonst allgegenwärtige Geschlechtertrennung ist im Vorhof des Heiligen aufgehoben. Aus diesem Grund bestand ein großer Teil der Todesopfer am 16. Februar aus Frauen und Kindern.

Abendlicher Tanz im Lal Shahbaz Qalandar-Schrein; Foto: AFP/Getty Images
Perfides Anschlagsziel: Hunderte Gläubige hatten sich am Aben des 16. Februar im Lal Shahbaz Qalandar-Schrein in der abgelegenen Stadt Sehwan versammelt, um mit den traditionellen Sufi-Tänzen Allah zu verehren. Der Täter sprengte sich inmitten einer Gruppe von Tänzern und Zuschauern in die Luft. Zu dem Anschlag hatte sich der IS bekannt. Der Sufi-Zweig des Islam ist den sunnitischen islamistischen Gruppen im Land ein Dorn im Auge. Es gibt in Pakistan regelmäßig Anschläge auf Sufi-Stätten.

Der deutsche Anthropologe Jürgen Wasim Frembgen, von dem zuletzt die Reisereportagen-Sammlung "Sufi Tonic" erschien, ist mehrfach zum Fest des Shahbaz Qalandar nach Sehwan gereist. Frembgen erforscht seit Jahren die Volkstraditionen der pakistanischen Sufis. Der Heiligenschein von Sehwan blieb ihm bei seiner Arbeit ein Sehnsuchtsort. "In Sehwan Sharif kristallisiert sich der populäre, informelle Sufismus und verbindet sich mit den schillernden Dimensionen eines gelebten volkstümlichen Islam", sagt Frembgen. "Was der Besucher dort erlebt, ist pure Emotionalität und Daseinsfreude."

Erlebnisbetonte Religiosität

Es ist dieses Lebensgefühl, das der Terror gegen die Sufis in Pakistan zerstören will. Im durch und durch von sozialen Kodizes regulierten Alltagsleben der meistens Pakistanis ist der Schreinbesuch ein räumlich und zeitlich begrenztes Erlebnis von Freiheit und Leichtigkeit. Der gelebte Volksislam entspricht dem inhärenten menschlichen Wunsch nach ekstatischer Erfahrung - er wurzelt in der islamischen Überlieferung, geht in seinem Streben nach Transzendenz aber auch darüber hinaus. Dieser erlebnisbetonten Religiosität steht ein nüchterner Buchislam gegenüber, der die religiöse Praxis auf eine Reihe vorgeschriebener Rituale begrenzen will.

Die ultra-orthodoxe Islam-Auslegung ist auf dem indo-pakistanischen Subkontinent ein neues Phänomen, das mit der über Jahrhunderte gelebten Religionsausübung wenig zu tun hat. Seit den 1970er Jahren hat die vom Ölwohlstand genährte saudische Lobby die religiöse Landschaft der Muslime in Pakistan und Indien konsequent verwandelt. Unter dem Regime von General Zia ul-Haq errichtete Saudi-Arabien in Pakistan ein weit verzweigtes Netzwerk von Madrasas, die bis heute wahabbistisches Gedankengut verbreiten.

Innerhalb von zwei Generationen, die mit dem Fremdkörper einer engstirnigen Islam-Auslegung infiziert wurden, hat sich die Einstellung vieler Muslime in Pakistan gewandelt. Sufis werden zunehmend als "un-islamisch" etikettiert, Schreine als Stätten der Häresie gebrandmarkt. Tanz, Musik sowie die Teilhabe von Frauen und Andersgläubigen werden zu Praktiken der "Ungläubigen" erklärt. Auf diesem Nährboden der Intoleranz kann sich der IS-Terror von heute leichter legitimieren.

Schrein des Lal Shahbaz Qalandar bei Nacht; Foto: Getty Images/AFP
Oase der Spiritualität und religiösen Toleranz: Religiöse Minderheiten sind am Grab des Lal Shahbaz Qalandar nicht nur willkommen - einer der Wächter, die den Schrein in familiärer Erbfolge betreuen, ist bis heute ein Hindu. Nicht nur das: Frauen tanzen beim Dhamal-Ritual gemeinsam mit Männern. Die sonst allgegenwärtige Geschlechtertrennung ist im Vorhof des Heiligen aufgehoben.

Der britische Historiker William Dalrymple vergleicht diese Entwicklung mit dem Europa am Vorabend der Reformation: Im 16. Jahrhundert verurteilten Reformer und Puristen Musik, Bilder, Feste und Heiligenverehrung als Aberglauben des ungebildeten Proletariats und propagierten stattdessen einen wortgetreue Religionsauslegung.

Kein Aussterben der Sufi-Traditionen

Doch auch wenn die Zahl der Pilger an den Sufi-Schreinen in den letzten Jahren etwas abgenommen hat - an ein Aussterben der Sufi-Traditionen in Pakistan glaubt der Forscher Frembgen nicht: "Die populäre Sufi-Tradition und der mit ihr verbundene Volksislam repräsentieren in meinen Augen einen Islam, der über keine Lobby verfügt, aber er wird weiterleben, weil er den Bedürfnissen und Sehnsüchten der verarmten Bewohner auf dem Land und in den Slums der Städte am weitesten entspricht."

Für viele Sufis in Pakistan sei die chaotische Gegenwart mit ihrer überbordenden Gewalt eine Art schwarzes Zeitalter. Da ein Großteil der Sufi-Pilger einem inneren Gelübde oder lang gehegten Familientraditionen folgten, ließen sie sich von Gewalt nicht abschrecken. Für Frembgen bedeutet das erhöhte Risiko, bei der Arbeit Menschenansammlungen in den großen Schreinen zu meiden. Ihm ist jedoch wichtig, gerade jetzt das Reichtum des pakistanischen Volksislam ins Bewusstsein rücken.

"Ich versuche, eine Lanze zu brechen für den von islamischen Theologen immer noch verächtlich als 'Aberglaube' bezeichneten Volksislam", bemerkt der Anthropologe.

Verwunderlich ist, wie verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit der Anschlag von Sehwan in den deutschen Medien erhielt. Leicht wird hierzulande vergessen: Der größten Bedrohung durch den IS sind die gemäßigten Muslime in Ländern wie Pakistan ausgesetzt. Am Schrein von Lal Shahbaz Qalandar jedenfalls setzte man gegenüber den Bombern des IS ein deutliches Zeichen: Schon wenige Stunden nach dem Anschlag ließ der Schreinwächter den Dhamal fortsetzen. Der Tanz geht weiter.

Marian Brehmer

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