Opfer ohne Lobby

Vor genau 20 Jahren begann die so genannte Anfal-Operation im kurdischen Teil des Irak. Mehr als 100.000 Menschen wurden verschleppt: Die anhaltenden Konflikte im Irak lassen die Opfer in Vergessenheit geraten. Eine Tagung von Haukari e.V. und des Zentrums Moderner Orient machte jetzt auf die prekäre Situation der Überlebenden aufmerksam. Ariana Mirza berichtet.

Grabsteine als Denkmal für die Anfal-Operation im irakischen Sewsenan; Foto: AP
Genozid an der irakisch-kurdischen Bevölkerungsminderheit - die Anfal-Operation Saddam Husseins von 1988 bis 1989

​​Das Codewort der Militäraktion war einer Koransure entlehnt: al-Anfal, die Beute. Im Frühjahr 1988 startete die Großoffensive der irakischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung im Norden des Irak.

Zum zwanzigsten Jahrestag der Anfal-Operation traf sich in Berlin eine internationale Expertenrunde mit Opfervertreterinnen. Bei dem Treffen ging es darum, Perspektiven für die dringend notwendige Aufarbeitung zu entwickeln.

"Zeit heilt keine Wunden. Wunden werden vererbt, von Generation zu Generation" Mit dieser Warnung des Friedensforschers Dr. David Bloomfield startete die Debatte über Vergangenheitsbewältigung im Irak.

Bloomfield, der bereits Aussöhnungsprozesse in Ruanda und Nordirland begleitete, verwies darauf, dass Versöhnung nicht erzwungen werden kann.

Anfal Opfer, Mitglieder der Frauenvereinigung Rizgary, Irak; Foto: © Ariana Mirza
Anfal-Opfer wie Shazada Hussein Mohammed, die als junge Frau verschleppt wurde, warten nach wie vor auf Gerechtigkeit

​​"Die Opfer müssen entscheiden, ob und wann sie vergeben."Doch die Erfahrung zeige, dass Opfer von Gewalt und Verfolgung zur Aussöhnung bereit seien, sobald sie das Gefühl hätten, ihnen würde Gerechtigkeit widerfahren.

Am Rande der Gesellschaft

Anfal-Opfer warten nach wie vor auf Gerechtigkeit. Eine der Wartenden ist Shazada Hussein Mohammed, die als junge Frau verschleppt wurde. Ihr Ehemann ist seither verschollen, ebenso wie all ihre Verwandten. Geblieben ist ihr eine einzige Tochter.

Da ihr Dorf zerstört wurde, lebt Shazada Mohammed seit zwei Jahrzehnten in einem Übergangslager. Sie forderte, die Täter von damals vor Gericht zu stellen und zu bestrafen.

Nichts habe ihr mehr Genugtuung bereitet, als beim ersten Anfal-Prozess 2006 als Zeugin auszusagen, berichtete die Kurdin. Doch es sei auch an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft sich ihrer Schuld stelle. "Die Staaten, die damals Waffen geliefert haben, müssen jetzt Verantwortung tragen."

Shazada Mohammeds Schicksal ist kein Einzelfall. Schätzungsweise 10.000 Überlebende der Anfal-Operation, zumeist Frauen, verloren nicht nur ihre Angehörigen, sondern auch ihr soziales Gefüge. Viele fristen bis heute ein Dasein am Rande der Gesellschaft.

Dr. David Bloomfield, Glencree Centre for Peace and Reconciliation, Irland; Foto:&copy Ariana Mirza
"Die Opfer müssen entscheiden, ob und wann sie vergeben." Dr. David Bloomfield begleitete bereits Aussöhnungsprozesse in Ruanda und Nordirland

​​Da aufgrund der anhaltenden Sicherheitsprobleme bislang kaum eines der über 3.000 Massengräber im Irak geöffnet werden konnte, fehlt weiterhin die letzte Gewissheit über den Verbleib der Ehemänner. Der gesellschaftliche Status der Frauen verharrt in einer Grauzone zwischen Ehefrau und Witwe. Den Kindern, insbesondere den Mädchen, haftet zudem der Makel der vaterlosen Kindheit an.

Die karge Rente, die die kurdische Regionalverwaltung den Überlebenden seit 1999 gewährt, lindert zwar die existentielle Not. Aber eine gesellschaftliche Wiedereingliederung ist bislang nicht gelungen. Stattdessen stehen die Anfal-Opfer ebenso wie andere Opfergruppen im Irak stets in der Gefahr, instrumentalisiert zu werden.

Schon jetzt würden Anfal-Opfer zum Spielball eines Konkurrenzkampfes zwischen nationalen und regionalen Behörden, warnten die Experten in Berlin. Die Folge dieser Politik sei eine Fragmentierung der irakischen Gesellschaft. "Da findet eine Entsolidarisierung statt."

Die Verhandlungen gegen die Täter müssen weitergehen

Gulnaz Aziz Qadir, Abgeordnete des kurdischen Regionalparlaments, widersprach dieser Einschätzung. Es fehle der kurdischen Regionalverwaltung einzig an Mitteln, um bereits erarbeitete Hilfsprogramme für die Frauen umzusetzen. Hier sei Unterstützung gefordert, sagte Qadir.

Sowohl westliche Waffenlieferanten als auch die irakische Zentralregierung müssten sich an der Wiedergutmachung für Anfal-Opfer beteiligen. Ebenso wichtig sei es, die 2006 begonnenen Gerichtsverhandlungen gegen die Täter fortzusetzen. "Das ist ein langwieriger Prozess, den wir aber unbeirrt vorantreiben."

Die fragwürdigste Rolle im Aufarbeitungsprozess der nächsten Jahre kommt zweifellos den Dschasch zu, den im Volksmund verächtlich "Eselskinder" genannten, kurdischen Kollaborateuren. Für sie wurde bereits 1991 eine Amnestie erlassen.

Diese Entscheidung verteidigte Gulnaz Aziz Qadir in Berlin mit der Sorge um die innere Sicherheit. "Wir mussten weiteres Blutvergießen verhindern." Die Amnestie für kurdische Täter habe letztlich auch dazu beigetragen, dass Kurdistan heute der einzige friedliche Landesteil des Irak sei.

Ariana Mirza

© Qantara.de 2008

Qantara.de

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