Subversiv und unabhängig

Das "Boulevard des jeunes musiciens" in Casablanca ist eine kleine Revolution. Im zehnten Jahr ist das Musikfestival längst zum Kristallisationspunkt der Subkultur geworden. Man gibt sich kritisch und selbstbewusst, was die Jugend begeistert und die Regierung ärgert. David Siebert berichtet.

Band Hoba Hoba Spirit; Foto: David Siebert
Das Festival ist konservativen Politikern ein Dorn im Auge. Ein Verbot ließ sich aufgrund des großen Protests aber nicht durchsetzen.

​​Mohamed "Momo" Merhari steht auf dem staubigen Boden des Rugbystadions "Stade de l'Etoile" und reibt sich müde die Augen: "Vor zwei Tagen wurde das Festival verboten", erklärt er das hektische Treiben der Bühnenarbeiter in der sengenden Mittagshitze. "Nur Dank unserer Proteste wurde das Verbot wieder aufgehoben."

Abends dann Erleichterung: Schon zum ersten Festivaltag pilgern tausende Besucher. Zum Jubiläum gibt es ein "Best-of"-Programm. Gruppen wie Fez City Clan, Hoba Hoba Spirit oder Haoussa hatten auf dem "Boulevard" ihre ersten großen Auftritte, mittlerweile sind sie Helden der Großstadtjugend. Mehr als 40 Bands treten auf, das Musikspektrum reicht von Heavy-Metal über Hiphop, Dub und Elektro bis hin zur "Fusion" – einem Potpourri von marokkanischen Stilen und Rock und Reggae.

Hardcore-Issawa und Gnawa-Rock

Als Momo zusammen mit Hicham Bahou 1999 das "Boulevard" gründete, ahnte keiner, dass es bald zum Kristallisationspunkt der Subkultur werden würde. "Anfangs gab es hier nur drei, vier Heavy-Metal- und Rapgruppen", erinnert sich der 36-Jährige. Im nächsten Jahr platzte der angemietete Saal bereits aus allen Nähten: "Drinnen hat das Publikum vor Begeisterung die Scheiben zertrümmert. Draußen standen Tausende die auch noch rein wollten." Das "Boulevard" wechselte in ein Stadion. 160.000 Besucher wurden im letzten Jahr gezählt.

Publikum; Foto: David Siebert
"Haschischraucher, Lesben und Jugendliche, die sich wie Tiere verhalten." - Islamistische Medien kritisieren das Festival und die "verwestlichte" Jugendkultur.

​​Die neue Alternativmusikszene ist mehr als ein Abklatsch von MTV: Die Bands singen auf "Darija", der marokkanischen Umgangssprache. Die Fusion-Bands bringen so illustre Genres wie Hardcore-Issawa oder Gnawa-Rock hervor. Auch Hiphop-Bands samplen maghrebinische Musik. "Die marokkanische Musikkultur ist bei der Jugend noch sehr lebendig. Selbst Rapper können bei einer Hochzeit traditionelle Lieder spielen", meint Reda Allali, Sänger von Hoba Hoba Spirit. "Wir öffnen uns der Welt, bleiben aber trotzdem 100 Prozent marokkanisch, weil wir unsere Besonderheiten bewahren", ergänzt Badre, Gitarrist bei der Regage-Gnawa Band Darga.

Rappen gegen Ungerechtigkeit

Eine neue, eigene Populär-Musikkultur – das bedeutet für das islamische Königreich eine kleine Revolution. Das Regime des alten Königs Hassan II. sah Kultur als Bedrohung an: "In den 70er Jahren hat man hier Theater und Konzerthallen abgerissen und Musiker ins Gefängnis gesteckt", erklärt Momo.

Mit der neuen Alternativmusikszene kann sich die Jugend nun wieder artikulieren. Die Rapper gelten als Sprachrohr der Armenghettos. Sie prangern Arbeitslosigkeit, Korruption und Polizeiwillkür an. "Raptiviste.net" hat das Mixtape "Mamnou3 f'radio" herausgegeben, das Raptitel versammelt, die von den Radiosendern boykottiert oder vom Staat zensiert wurden. "Kritischer Hiphop stellt in einer Gesellschaft mit 60 Prozent Analphabeten eine Bedrohung dar!", verkündet der Rapper Z-One.

Konservative fürchten kulturelle Unterwanderung

Die Fusion-Bands gehen die Malaise mit Ironie an. In "Miloudi" machen sich Hoba Hoba Spirit über den schnauzbarttragenden korrupten Verkehrspolizisten, wie er hier an jeder Ecke zu finden ist, lustig. Haoussa mischen sarkastische Gesellschaftskritik mit einem radikalen Ästhetikkonzept: Sie treten mit Clowns-Perücken auf und mischen traditionelle Issawa-Musik mit dröhnendem Punk, Ska und Drum'n'Bass.

Jugendliche in Casablanca; Foto: David Siebert
Unter König Hassan II wurden Konzerthäuser abgerissen und Musiker ins Gefängnis verfrachtet. Jetzt entwickelt sich erstmals eine eigenständige Jugendkultur.

​​Doch es gibt auch Hindernisse: "In Casablanca kommen auf ein Jugendkulturhaus eine halbe Millionen Einwohner. Die Funktionäre dort wissen nicht mal, wie ein Gitarren-Verstärker aussieht!", lacht Khalid, Sänger von Haoussa. "Wer in Marokko mit einer E-Gitarre oder in Hiphop-Outfit auf die Bühne steigt, gilt als Provokateur", erklärt Reda Allali. So beklagte der bekannte Theater-Regisseur Abdelkarim Berchid, dass Hiphop Teil einer "kulturellen Unterwanderung" sei und die traditionellen Tajine-Gerichte bald durch "Hamburger, Kaugummis und Videoclips" verdrängt würde.

Hoba Hoba Spirit sampelten daraufhin sein Fernsehinterview in ihrem Song "El Kalakh" und beschuldigten ihn darin der geistigen Brandstiftung. Unkenrufe über die Verwestlichung Marokkos sind Gang und Gebe: Die islamistische Partei PJD hetzt in ihrer Zeitung Attajdid gegen das "Boulevard" und legte 2007 im Parlament eine Petition gegen das Festival vor. "Al Massae" – eine unabhängige Tageszeitung – titelte letztes Jahr einen Festivalbericht mit: "Haschischraucher, Lesben und Jugendliche, die sich wie Tiere verhalten."

"Bienvenue a Casa"

Verbotsversuche kommentiert Momo mit Schulterzucken: "2005 kamen zwei Zivilpolizisten auf die Bühne. Wir sollten das Konzert abrechen, weil im Viertel drei Generäle wegen dem Lärm nicht schlafen konnten! Wir haben geantwortet: Hier feiern 25.000 Jugendliche, sollen wir wegen drei Generälen alles abblasen?"

Gitarrist von Haoussa; Foto: David Siebert
Radikales Konzept: die Band Haoussa tritt mit rosafarbenen Perücken auf und mischt traditionelle Issawa-Musik mit Punk, Ska und Drum'n'Bass.

​​Auch der Staat torpediert das "Boulevard". "Das Kulturministerium hat alle Fördergelder gestrichen. Die Zahlung ausstehender Gelder wurde eingestellt. Uns fehlen nun 60.000 Euro!", beklagt Momo. Da der Eintritt kostenlos ist, sind Sponsorengelder die einzige Einnahmequelle. Das königliche Mawazine-Festivals hingegen wird mit drei Millionen Euro gefördert. "Die meisten Festivals hier werden vom Staat kontrolliert", erklärt er. "Wir sind subversiv und unabhängig, das nervt sie. Aber das macht unsere Stärke aus: Das Festival gehört der Jugend, deswegen haben wir unzählige ehrenamtliche Helfer!"

Der Reformkurs des liberalen Königs Mohammed sorgte lange für viel Hoffnungen: "Nayda", arabisch für "Aufwärts", lautete der Slogan mit dem das Wiederaufblühen des Kulturlebens bejubelt wurde – eine Anspielung auf die "Movida", die soziokulturelle Revolution, die in Spanien den Übergang zur Demokratie begleitete. Doch die anhaltende soziale Ungerechtigkeit und die Repression gegen Menschenrechtsgruppen, unabhängige Medien und kritische Kulturschaffende zeigen, dass der Öffnungsprozess in einem eng gesteckten Rahmen verläuft.

"Unter diesen Bedingungen von einer Movida zu sprechen, stellt eine Beleidigung der Intelligenz dar", resümiert Ali Amar, Chefredakteur des "Journal Hebdomadaire". Das Publikum des "Boulevard" bleibt optimistisch: Zum Schluss des Festivals stimmen Hoba Hoba Spirit ihren Hit "Bienvenue a Casa" – "Willkommen in Casablanca" – an. Zehntausende jubeln und rufen begeistert: "Casa Nayda!"

David Siebert

© Qantara.de 2008

Qantara.de

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