"Christen und Muslime leben nebeneinander"

Seit vier Jahren ist Fredericke Weltzien Pfarrerin der deutschen evangelischen Gemeinde in Beirut. Über ihre Arbeit im Land der vielen Religionsgemeinschaften berichtet Christina Förch.

Fredericke Weltzien; Foto: Privat
Fredericke Weltzien betont, dass im Libanon der religiöse Dialog unabhängig von allen ideologischen Differenzen sei.

​​"Ich fühle mich hier zu Hause," sagt Fredericke Weltzien, vierfache Mutter und seit vier Jahren Pfarrerin der deutschen evangelischen Gemeinde in Beirut. "Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich als kleines Kind hier aufgewachsen bin." Vier Jahre war sie alt, als sie zum ersten Mal nach Beirut kam.

Ihr Vater hatte eine Professur an der Amerikanischen Universität (AUB) und brachte die ganze Familie mit. Als Jugendliche verbrachte sie auch einige Jahre hier. Das war kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs. 1999 wurde die Pfarrstelle frei, sie bewarb sich zusammen mit ihrem Mann Uwe, ebenfalls Pfarrer, und nun betreuen beide eine Gemeinde von über 100 Mitgliedern.

Im Land der achtzehn Religionsgemeinschaften mag sie "die religiöse Atmosphäre." Die Menschen hätten ein wirkliches Interesse an Religion. "Oft werde ich auf der Strasse oder im Laden gefragt, wie ich über Gott denke, obwohl die Leute gar nicht wissen, dass ich Pfarrerin bin", erzählt sie.

Gelebter religiöser Dialog

Die deutsche Gemeinde existiert seit 150 Jahren und hat ihren Sitz in Westbeirut, dem vorwiegend von Muslimen bewohnten Teil der libanesischen Hauptstadt. "Aber Christen und Muslime leben hier nebeneinander. Muslime kommen zu unseren Festen, und wir werden oft zum Fastenbrechen während des Ramadans eingeladen. Es ist ein gelebter religiöser Dialog, unabhängig von allen ideologischen Differenzen."

Als Pfarrerin ist sie in einer religiösen Schlüsselposition, steht in Kontakt mit griechisch-orthodoxen Patriarchen und muslimischen Scheichs. Sie bemüht sich auch auf offizieller Ebene um den inter-religiösen Dialog. "Natürlich sind viele erst einmal überrascht, dass eine Frau Pfarrerin sein kann," meint sie. Selbst in der libanesisch-evangelischen Gemeinde durfte bisher keine Frau den Kirchendienst antreten. "Durch meine Präsenz stelle ich diese Praxis aber immer wieder in Frage," erklärt Weltzien.

Gegenseitige Hilfe bei Problemen

Der Kontakt zu anderen Konfessionen und zu deren Offiziellen geschieht nicht nur aus Interesse am Dialog. "In vielen sozialen Problemfällen brauchen wir die praktische Hilfe anderer," erklärt sie. So kommt es immer wieder vor, dass libanesische Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind und nun wieder im Libanon leben, mit großen Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen haben. Besonders Mädchen haben es schwer, sich in der neuen Gesellschaft zurechtzufinden.

Diesen Sommer gab es einen Notfall. Eine junge, in Deutschland aufgewachsene Libanesin befürchtete, ihr Vater könne sie umbringen – er hatte ihr Tagebuch gelesen und bezweifelte ihre Jungfräulichkeit. Weltzien versuchte, das Mädchen zu schützen und mit der Familie zu verhandeln - mit Hilfe eines islamischen Scheichs. Leider vergebens. Das Mädchen kehrte irgendwann zu seiner Familie zurück. Der Vater ermordete sie und ihre Mutter.

Ehrenmord zum Thema machen

"Unsere kirchlichen Sozialprojekte müssen sich mehr mit dieser Problematik befassen," sagt Weltzien. So versucht die evangelische Gemeinde nicht nur bei Einzelfällen zu helfen, sondern auch mit Geldmitteln aus Deutschland libanesische Frauenorganisationen zu unterstützen. Im Herbst plant Weltzien zudem einen offenen Abend, in dem sich libanesische Vertreter der christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften zum Thema Ehrenmord äußern.

"Natürlich bin ich manchmal total verzweifelt," gesteht die Pfarrerin. Außer den menschlichen Schicksalen und den Diskrepanzen zwischen arm und reich berührt sie auch, wie nachlässig die Libanesen mit der Natur umgehen. "Für Geld werden Berge abgebaut, alte Häuser abgerissen – wer Geld hat, hat die Macht."

Doch sie findet, es sei nicht ganz aussichtslos. "Von dem erwähnten Härtefall einmal abgesehen, gelingt es uns oft zu helfen," meint sie. Dabei spiele die gesamte Gemeinde eine Rolle – zum Beispiel der junge libanesische Hausmeister, der in Deutschland aufgewachsen ist. "Junge Deutsch-Libanesen kommen inzwischen oft zu ihm, wenn sie Hilfe brauchen."

Therapeutin und Seelsorgerin

Die Gemeinde als Ausgangspunkt für das Aktivwerden in der libanesischen Gesellschaft? "Ja, ich sehe das so," meint Weltzien. Libanesen, Deutsche und Ausländer kommen hier zusammen – zur Bastelgruppe, die es nirgendwo sonst gibt. Zum Singen und Diskutieren. Zur Tanztherapie, die Weltzien seit ein paar Monaten anbietet. "Eigentlich könnte ich hier als Vollzeittherapeutin arbeiten," sagt sie.

Für viele – wie die Deutsch-Libanesen, aber auch vereinsamte alte deutsche Frauen, die hier in Armut leben – ist die deutsche Gemeinde die einzige Anlaufstelle. Und für Weltzien ist es wichtig, sich auf allen Ebenen engagieren zu können – sei es kreativ beim Vorbereiten des Weihnachtsbazars oder seelsorgerisch als Pfarrerin in der Kirche und im Sozialdienst.

Die evangelische Gemeinde ist zweifelsohne wichtig, für Deutsche und für Libanesen. Doch die finanzielle Unterstützung durch die Landeskirchen in Deutschland ist in den letzten Jahren immer mehr zurückgegangen. Bereits vor dem Amtsantritt der Weltziens hatte die Gemeindeversammlung in Beirut beschlossen, durch den Ausbau des Gemeindehauses Privatwohnungen zu bauen und gewinnbringend zu vermieten – aus den Mieteinnahmen soll sich dann zukünftig die Gemeinde selbst finanzieren.

Uwe Weltzien war maßgeblich an der Durchführung der Bauphase beteiligt und kümmerte sich um die Vermietung der Wohnungen. "Das ging ganz schnell – inzwischen haben wir 20 Leute auf der Warteliste," erläutert die Pfarrerin. Doch die Kredite müssen noch zurückgezahlt werden, bevor das Geld endlich in die Gemeindearbeit fließen kann.

"Bis dahin müssen wir noch um Spendengelder kämpfen," erzählt Weltzien – auch das gehört zu den vielfältigen Aufgaben einer Auslandspfarrerin. Aber wenn der Stress wieder einmal zu groß zu werden droht, geht sie einfach an die Corniche, blickt auf das Meer oder hinüber zu den Bergen, und der Libanon ist wieder so, wie sie ihn liebt – einfach schön.

Christina Förch

© Qantara.de 2003