Ein Pakt wider das historische Gedächtnis

Am 5. Juli 2012 begeht Algerien den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Frankreich. Eine gute Gelegenheit, die koloniale Vergangenheit kritisch zu beleuchten. Doch von jenem düsteren Kapitel will man auf beiden Seiten des Mittelmeeres heute nicht mehr viel wissen. Ghania Khelifi informiert.

Von Ghania Khelifi

Begeisterung ruft dieses Datum bei keinem Algerier hervor, am allerwenigsten bei den Jüngeren. Für sie ist es eine "Sache der Alten" – derjenigen eben, die das Land seit dem 5. Juli 1962 mit eiserner Faust regieren.

Die "richtige" Geschichte, die aufzeigen könnte, welche Rolle die Menschen wirklich gespielt haben und wie die Ereignisse in Wahrheit abgelaufen sind, wird in den vergangenen Jahrzehnten die große Abwesende gewesen sein. In diesem Jahr wird noch deutlicher zutage treten, wie man sich mit geschichtlichen Fakten arrangiert, denn dieser 50. Jahrestag kommt wohl manch einem ungelegen, so könnte man meinen.

Am 5. Juli 2012 werden in Algerien die Parlamentswahlen und in Frankreich die Präsidentschaftswahlen vorüber sein. Vor diesem Hintergrund wird besser verständlich, warum der frühere Kolonialherr auf so wundersame Weise an den Gedächtnisfeiern zur Befreiung der ehemaligen Kolonie teilhat!

In Frankreich werden aus diesem Anlass alle möglichen kulturellen Ausdrucksformen mobilisiert – ob Film, Literatur, Theater, Ausstellungen und Vorträge, eben einfach alles. Es gilt, für Entspannung in der gegenwärtigen Atmosphäre zu sorgen. Schließlich hat niemand hat Lust, die im eigenen Land anstehenden politischen Schreckgespenster mit noch offenen Streitfragen der Vergangenheit aufzuladen.

Eine Art Nicht-Angriffspakt

Der algerische Premierminister Ahmed Ouyahia; Foto: AP
Der algerische Premierminister Ahmed Ouyahia hatte im Konflikt um die Armenierfrage Erdogan aufgefordert, die Kolonialzeit Algeriens in dem Streit nicht mehr zu erwähnen: "Niemand hat das Recht, Nutzen aus dem vergossenen Blut der Algerier zu ziehen"

​​Zwischen Algiers und Paris gibt man sich daher alle Mühe – man bestärkt sich gegenseitig und tauscht Botschaften in unterschiedlichster Form aus. Angesichts des immer näher rückenden Datums will man sich auf eine Art Nicht-Angriffspakt verständigen. Die algerische Regierung hat bereits erste Signale ausgesandt, als sie die Türken "freundlich" aufforderte, sie möchten sich doch tunlichst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.

Der türkische Premierminister Erdogan hatte gegen das vom französischen Parlament verabschiedete Gesetz protestiert, das den Genozid in Armenien verurteilt und hatte seinerseits Nicolas Sarkozy Anfang Januar Völkermord in Algerien vorgeworfen. Daraufhin erinnerte der algerische Premierminister die Regierung in Ankara daran, dass "das NATO-Mitglied Türkei von 1954 bis 1962 in der UNO gegen die algerische Frage gestimmt hatte" und bezichtigte sie in mehr oder weniger deutlichen Worten des "Handels mit dem Blut der Märtyrer".

Erdogans Worte waren allerdings für die meisten Algerier so etwas wie "Balsam auf die Seele". Es mag erstaunen, dass die Regierung eine Position vertritt, die dem nationalen Empfinden so stark widerspricht, zumal die Beziehungen zu Frankreich oft sehr unterkühlt sind, doch entspringt diese Haltung durchaus einem Kalkül.

Für die algerische Regierung, vertreten durch ihren Premierminister Ouyahia, der auch für die Präsidentschaft 2014 kandidiert, geht es darum, der nationalen Befreiungsfront FLN, Mitglied der Regierungskoalition, ihre historisch begründete Legitimität zu entziehen.

Die FLN hatte den Unabhängigkeitskrieg geführt und besteht weiterhin auf Schuldeingeständnis und Entschuldigung von französischer Seite. Mit diesem Ziel vor Augen hatte sie 2010 einen Gesetzesentwurf befürwortet, der den französischen Kolonialismus für kriminell erklärte. "Diplomatische und juristische Erwägungen" ließen den Entwurf jedoch schneller verschwinden, als er erschienen war.

Algeriens Präsident Bouteflika (links) begrüßt Frankreichs Präsident Sarkozy bei seiner Ankunft in Algier, Foto: AP
Neue, alte Verbundenheit mit Paris: Algeriens Präsident Bouteflika hatte versichert, man werde Frankreich bei den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag schonend behandeln.

​​Die Islamisten ihrerseits sind aus der Regierungskoalition ausgetreten und haben versucht, auf den türkischen Zug aufzuspringen. Sie vereinnahmen das türkische Modell ohne jede Hemmung, um mit dessen Hilfe zu beweisen, dass Islamismus und Demokratie einander keineswegs ausschließen, sondern ohne Weiteres kompatibel sind.

Die Reaktion der Regierung, die die FLN als "Verrat" an den Märtyrern bezeichnet, ist in der gegenwärtig laufenden Wahlkampagne auf jeden Fall ein Geschenk des Himmels. Was für ein Argument könnte ihrer Sache nützlicher sein, als diese Regierung als "laizistisch" und dem Westen hörig zu bezeichnen, um sich selbst auf die große muslimische Nation zu berufen, die Seite an Seite mit den Türken der französischen Arroganz entgegenwirkt?

Präsident Bouteflika, der zu Beginn seiner Amtszeit eine französische Entschuldigung gefordert hatte, ist nun ebenfalls auf die Seite der Militärmacht gewechselt und versprach, man werde Frankreich bei den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag schonend behandeln.

Im Geist der Mäßigung

Dies erklärte jedenfalls im Januar der französische Außenminister Alain Juppé: "Wir sind mit Präsident Bouteflika übereingekommen, dass die Feierlichkeiten in einem Geist der Mäßigung ablaufen und extremistische Ausschreitungen, welcher Couleur auch immer, nach Möglichkeit unterbunden werden."

Um diesen Geist der Mäßigung zu garantieren beauftragte der französische Präsident den in Algerien sehr angesehenen ehemaligen Botschafter Hubert Colin de Verdière mit "einer Mission zur Koordination der Veranstaltungen, die in Frankreich im Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag der algerischen Unabhängigkeit geplant sind."

Auf algerischer Seite übernahm der Premierminister persönlich den Vorsitz in der für die Festivitäten zuständigen Kommission, um Exzessen vorzubeugen, die seitens derjenigen Kräfte eventuell zu befürchten sein könnten, die auf Schuldeingeständnis und Entschuldigung von Frankreich drängen.

Der Aufruf zur "Mäßigung" aus Paris ist von der FLN und den ihr nahe stehenden Organismen ohnehin noch nicht akzeptiert worden, genauso wenig wie von den Islamisten, zahlreichen Journalisten und anderen Persönlichkeiten, die der Regierung vorwerfen, sie begehe geradezu Verrat an dem Leid, das die algerische Bevölkerung während der französischen Besatzung zu erdulden hatte.

Massenandrang auf dem Flughafen Maison-Blanche in Algier am 19.05.1962; Foto: dpa
Massenandrang am Flughafen Algier: Nach dem offiziellen Ende des Unabhängigkeitskriegs wurden die sogenannten Harkis entwaffnet und sich selbst überlassen. Tausende wurden daraufhin aus Rache von ihren algerischen Landsleuten massakriert. Hunderttausende Algerien-Franzosen flohen vor Racheakten nach Frankreich.

​​Hätten sie nicht bereits genügend Argumente, so hat ihnen das französische Parlament gerade noch eins dazu geliefert, als es einem Gesetz zustimmte, dass jede Äußerung unter Strafe stellt, die gegen die sogenannten "Harkis" gerichtet ist. (Während der Besatzung kämpften diese algerischen Muslime an der Seite der französischen Armee/Anmerkung der Redaktion).

Schon im vergangenen Dezember hatten die französischen Rechtsparteien einen Vorstoß unternommen, um im Invalidendom die Asche von General Bigeard beizusetzen, dessen Foltermethoden während der Schlacht um Algiers berüchtigt waren.

Die Algerier haben den "Pieds Noirs" (den ehemaligen Kolonialherren in Algerien/Anmerkung der Redaktion) das Einreisevisum verweigert, als diese eine Pilgerfahrt zu ihrem Geburtsort antreten wollten. Kleine Sticheleien, die dem anderen zu verstehen geben sollen, dass man sich zwar in Mäßigung übt, jedoch nicht an Amnesie leidet.

Unbequeme Fragen für die Machthaber

Ob man will oder nicht: Es wird gewiss viel Verbitterung hochkommen anlässlich dieser 50-Jahr-Feier zu Algeriens Unabhängigkeit. Und unweigerlich werden Fragen aufkommen, die im Hinblick auf die gemeinsame Geschichte beider Länder bis heute unausgesprochen geblieben sind, denn beide Länder orientieren die Erinnerung immer wieder nur an politischen Erfordernissen.

In Frankreich muss Präsident Nicolas Sarkozy auf den ultrarechten Flügel Rücksicht nehmen, aber gleichzeitig die linke Wählerschaft überzeugen. Außerdem muss er auf jeden Fall verhindern, dass die algerischen Entscheidungsträger gegen das französische Patronat aufgebracht werden, was die gute Vorarbeit betreffend Handelsabkommen belasten könnte.

Präsident Sarkozy in Algier; Foto: dpa
"Silent agreement" zwischen Sarkozy und Bouteflika: Die Erinnerung an den siebenjährigen Krieg um die letzte französische Kolonie in Nordafrika, der am 19. März 1962 zu Ende ging, soll die Beziehungen beider Staaten keinesfalls belasten.

​​Jean-Pierre Raffarin, der für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zuständig ist, hat Algiers vor kurzem einen "Arbeitsbesuch" abgestattet, wobei einige Verträge ausgehandelt wurden. Allerdings sind weder die guten Geschäfte zwischen den beiden Staaten, noch die schwierige Frage der Personenfreizügigkeit der Grund dafür, warum beide Staaten ihre gegenseitigen Vorwürfe für sich behalten und diesen 50. Jahrestag in relativ freundlichem und gemäßigtem Ton begehen.

Für die Regierenden handelt es sich darum, das Monopol über das historische Gedächtnis zu bewahren und alles auszuräumen, was mögliche Schwachstellen bloßlegen und die Liste der Defizite verlängern könnte.

Seit 50 Jahren ist die Geschichte vom offiziellen Diskurs und durch Schulbücher geprägt worden, herausragende Persönlichkeiten wurden abserviert, ihre Entwürfe für die Gesellschaft in Abrede gestellt. Stattdessen wurde das Volk, tugendhaft, gleichgesinnt und folgsam, zum Helden gekürt.

Stempel der Schande

Wer versuchen wollte, den Rest beim Namen zu nennen, nämlich die politischen Morde, die Unterdrückung der Freiheiten, den Ausschluss der Frauen und Intellektuellen, dem wird der Stempel der Schande aufgedrückt. Und es nimmt kein Ende: 2011 wurde ein neues Gesetz für Filmproduktionen angenommen, wonach jedes Filmszenario über die Revolution vom Kultusministerium genehmigt werden muss.

Keine der aufeinanderfolgenden Regierungen hat von den zuständigen Organen in Frankreich je wirklich die Öffnung aller Archive aus der Kolonialzeit gefordert – wenn überhaupt, dann geschah es nur halbherzig. Und die französische Exekutive hatte keinerlei Eile, diese Geschichte offen zu legen.

Sie denkt auch nicht im Traum daran, irgendwelche Vergehen zu enthüllen oder gar einzugestehen, wie etwa Folter, Vergewaltigung, Massaker an der algerischen Zivilbevölkerung, Nuklearversuche in unmittelbarer Nähe von Dörfern, "Rattenjagden", das heißt die Jagd auf die algerische Bevölkerung in ihrem eigenen Land und die Verletzungen der Menschenrechte während des Krieges - und zwar bis gegen Ende der 1970er Jahre.

In Wirklichkeit verlangen nur die, die an die Freundschaft beider Völker glauben und die zwischen der Kolonialmacht und der Bevölkerung unterscheiden, dass diese gemeinsame Geschichte endlich aufgeklärt wird und das historische Gedächtnis weiterhin präsent bleibt. Die anderen sind lediglich Politiker, die bei dem Gedanken an Aufklärung erschrecken, da es ihnen Unbehagen bereitet.

Ghania Khelifi

© Babelmed.net/Qantara.de 2012

Die algerische Journalistin Ghania Khelifi arbeitet als Redakteurin für die Zeitung "Le Midi". Zuvor war sie sieben Jahre lang Chefredakteurin der Tageszeitung "Liberté".

Aus dem Französischen von Antje Heizmann

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de