Amerika, hast du es besser?

Im Jahr 2005 wurde der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani mit seinem Buch "Der Jakubijan-Bau" zum internationalen Literaturstar. Mit "Chicago" ist ihm eine weitere spannende Erzählung gelungen, die das Leben ägyptischer Immigranten in den USA aufzeigt. Von Angela Schader

Im Jahr 2005 wurde der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani mit seinem Buch "Der Jakubijan-Bau" zum internationalen Literaturstar. Mit "Chicago" ist ihm eine weitere spannende Erzählung gelungen, die das Leben ägyptischer Immigranten in den USA aufzeigt. Angela Schader hat das Buch gelesen.

Alaa al-Aswani; Foto: AP
Bekannt für seinen einmaligen Erzählstil und seine lebendigen, literarischen Akzente - der ägyptische Bestsellerautor Alaa al-Aswani.

​​Ganz so rabiat, wie es manche Meldungen befürchten lassen, scheinen die ägyptischen Zensurbehörden zumindest nicht immer vorzugehen. Wie wäre es sonst möglich, dass ein Roman, der etwa die systematische Benachteiligung der Kopten vorführt, der sich einlässlich mit den Vorzügen eines Vibrators befasst und dann gar noch einen Blick über die schauerlich auf jung getrimmte Fassade des ägyptischen Staatsoberhaupts gleiten lässt …

Wie wäre es möglich, dass ein derart gegen Moral und Patriotismus verstossendes Werk nicht nur als Serie in einer der grossen Wochenzeitschriften Ägyptens vorabgedruckt wird, sondern im arabischen Original bereits in die fünfte Auflage gegangen ist?

Der Gedanke liegt nahe, dass Alaa al-Aswani, der Verfasser des gedachten Romans, dank seinem nicht minder erfolgreichen Erstlingswerk eine Art Immunität geniesst. Freilich: Schon jenes Buch, vergangenes Jahr unter dem Titel "Der Jakubijan-Bau" auf Deutsch erschienen, hatte sich mit gleicher Lust und Insistenz auf die Tabus der zwischen politischer Totenstarre und religiöser Renaissance taumelnden ägyptischen Gesellschaft gestürzt.

Damals hatte al-Aswani in einem Kairoer Mietshaus buchstäblich das Unterste zuoberst gekehrt, indem er das erbärmliche Leben der in glutheissen, auf dem Dach montierten Containern hausenden Zuwanderer ebenso ausleuchtete wie die bröckelnden Existenzen der im Haus lebenden Bonvivants und Aufsteiger.

Der Roman stiess bei Presse und Publikum auf so unmittelbares und lautstarkes Echo, dass die Zensurbehörde für einmal das Nachsehen hatte.

Schlagschatten der Macht

In "Chicago", al-Aswanis neuem Roman, verlagert sich der Schauplatz zwar in die Vereinigten Staaten, und God's Own Country wird mit dem einen oder anderen Nasenstüber bedacht. Insgesamt freilich wirkt der amerikanische Hintergrund erstaunlich blass, eine gedanklich fruchtbare Interferenz zwischen den Kulturräumen findet nicht statt.

Hauptziel des kritischen Furors bleibt vielmehr die Heimat, die hier einerseits durch eine Gruppe von ägyptischen Stipendiaten und emigrierten Akademikern an der Universität von Illinois vertreten ist, anderseits durch Repräsentanten des Machtapparats wie den Geheimdienstoffizier Safwat Schakir oder dessen Spitzel Achmad Danana.

Insbesondere der voluminöse Leib des Letzteren bietet eine prachtvolle Zielscheibe für al-Aswanis Breitseiten: Da paart sich Dummheit mit Duckmäusertum, Geiz mit Geilheit und frömmelnde Selbstgerechtigkeit mit schwammigem Opportunismus.

Erstaunlicherweise bleibt dieser Charakter trotz der Überfracht an miesen Eigenschaften nicht platt auf dem Papier liegen, sondern greift dem Leser durchaus an die Nerven; leider gelingt es al-Aswani nicht in jedem Fall gleich gut, seine Figuren aus den Untiefen der Kolportage auf den festen Grund der Literatur zu führen.

Der Autor hat für "Chicago" dasselbe Erzählprinzip gewählt wie schon für den "Jakubijan-Bau": Die Figuren werden abwechselnd in simultan laufenden Parallelerzählungen vorgeführt, wobei der Cliffhanger am Ende der einzelnen Episoden für Spannung sorgt.

​​Am wenigsten gelungen wirkt dabei der "amerikanischste" Erzählstrang, der den alternden Universitätsdozenten John Graham, einen zunehmend verbitterten einstigen Achtundsechziger, mit der jungen Afroamerikanerin Carol McNeilly zusammenführt.

Wohl nicht zuletzt mit Blick auf eine mit der amerikanischen Rassenfrage weniger vertraute ägyptische Leserschaft will al-Aswani hier die zerstörerischen Effekte der nach wie vor latenten Diskriminierung vorführen - und verlässt dabei zunehmend den Boden der Glaubwürdigkeit.

Ebenfalls recht kühn ausgedacht, aber stringenter entwickelt ist die Geschichte, in welche der Autor seine boshafte Vignette des ägyptischen Präsidenten bettet. Bei einem Staatsbesuch Mubaraks in den USA, der auch eine Begegnung mit den Stipendiaten und Akademikern in Chicago einschliesst, soll in deren Namen vor dem hohen Gast und vor laufenden Kameras eine Protestnote verlesen werden.

Objektiv betrachtet ein wohl allzu naiver politischer Traum, hat diese Episode ihren Rückhalt zumindest im Gefüge des Romans: Sie bündelt den regime- und gesellschaftskritischen Impetus, der dem Buch zugrunde liegt, und lenkt ihn aufs eigentliche Ziel hin -nur um ihn im letzten Moment ohnmächtig kollabieren zu lassen.

Abstürze, Höhenflüge

Wie der Cliffhanger sind im Roman auch solche finalen Abstürze nachgerade Erzählgesetz. Nagi Abdalsamad, der rebellische Student, der die Protestaktion anzettelte, wird vom ägyptischen Geheimdienst terroristischer Umtriebe bezichtigt und den nach 9/11 besonders unsanften Händen der CIA übergeben; der ägyptische Dozent Rafaat Thabit, der sich im Glauben wiegte, noch amerikanischer als die Amerikaner zu sein, ist unversehens über die eigenen kulturellen Wurzeln gestolpert und hat dabei seine Tochter verloren.

Achmad Dananas Charakter zeigt so offensichtliche Zersetzungserscheinungen, dass seine hart geprüfte Ehefrau ihm endlich den Laufpass gibt; und dem versöhnlichen Lächeln, das sich im letzten Satz des Romans andeutet, mögen wir bestenfalls zur Hälfte trauen.

Dies Lächeln zeichnet sich auf Lippen ab, die sich zu Beginn höchstens an streng zugeteilten Happen ägyptischer Süssigkeiten laben mochten. Sie gehören dem Streber Tarik Hussaib, dessen Liebesgeschichte mit der hausbackenen Schaima Muhammadi - oh, seufzen Sie nicht, geneigter Leser, denn das linkische Werben dieser beiden, die sich keinen Deut um Präsident Mubaraks Visite und die Apoplexie des von ihm verkörperten Staatswesens scheren, hat durchaus zauberhafte Seiten.

Im sexuell chargierten Klima, das al-Aswani liebt, hat Schaimas ängstlich gehütete Sittsamkeit besonderen Reiz; und die zwischen reiner Bedürfnisbefriedigung und unsicherer Zuneigung oszillierenden Gefühle ihres Galans verleihen der scheinbar schlichten, auf gute Mahlzeiten und konventionelle Hoffnungen gegründeten Beziehung eine irritierende, bis in jenes finale Lächeln hinein unaufgelöste Ambivalenz.

Nicht nur für uns geschrieben

Immer wieder setzt al-Aswani lebendige und pfiffige Akzente, von denen schon sein Erstlingsroman lebte - etwa wenn Schaima sich zu nächtlicher Stunde der Frage stellen muss, wie viel ihr die als goldener Weg zur Ehe anempfohlene Keuschheit am Ende gebracht hat.

Oder wenn Rafaat Thabit das "Amerikanische" so blind verehrt, dass er überschüssige Leibesfülle für einen ausschliesslich ägyptischen Makel hält. Solche Momente wirken nicht zuletzt als Gegengewichte in einem Roman, der sich manchmal allzu sehr ins Konstruierte versteigt, ohne dabei immer die wünschenswerte gedankliche Tiefenschärfe zu erreichen:

So bleiben Nagi Abdalsamads optimistische Auslassungen über die Toleranz des Islams unhinterfragt, und den Gedanken, bei der gegenwärtigen Reislamisierung der arabischen Welt handle es sich um eine "kollektive Depression mit religiösen Nebenerscheinungen", sähe man gern noch weiter ausgeführt.

Allerdings sind al-Aswanis Romane wohl nicht in erster Linie nach unseren Massstäben zu beurteilen, sondern im Blick auf ein weniger lesegewohntes arabisches Publikum, das hier zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensrealität verlockt werden soll. Diese Feuerprobe hat der Roman bestanden - und schon das macht ihn auch für hiesige Leser interessant.

Angela Schader

© Neue Zürcher Zeitung 2008

Alaa al-Aswani: Chicago. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Lenos-Verlag, Basel 2008. 465 Seiten

Qantara.de

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