"Keine temporäre Erscheinung wie der Tsunami"

AIDS ist in Indonesien auf dem Vormarsch – so auch in der Provinz Aceh, wo Hilfsorganisationen und muslimische Geistliche gemeinsam versuchen, die Bevölkerung aufzuklären und für das Thema AIDS zu sensibilisieren. Vidi-Athena Legowo berichtet aus Aceh.

Muslimische Mädchen singen in einer Schulklasse in Bireuen, Aceh (Foto: AP)
In der streng muslimischen Provinz Aceh findet das Thema Sexualität und Aufklärung in Schulen nicht statt. Umso schwieriger ist es, über den Schutz vor HIV/AIDS umfassend zu informieren.

​​"Auf Aceh hat sich nach der Tsunami-Katastrophe eine Menge verändert", berichtet die Ärztin Medya Yulizar. "Dorthin kommen jetzt viele Menschen, was gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Veränderungen auch die Zahl von HIV-Infektionen steigen läßt, ist groß."

Yulizar, die sich als Ärztin mit HIV und AIDS in Banda Aceh beschäftigt, macht sich Sorgen um ihre Heimat. Vor dem Tsunami, gab es nur eine HIV-Positive auf Aceh, jetzt sind es vier. Yulizar und das AIDS-Komitee von Banda Aceh arbeiten mit der UNICEF zusammen, um eine weitere Ausbreitung von HIV/AIDS im Keim zu ersticken.

Mit UNAIDS als Koordinator beschäftigt sich UNICEF eigentlich schwerpunktmäßig mit der Übertragung des Virus von Mutter auf Kind, doch auch Aufklärungskampagnen gehören zur Arbeit.

AIDS und Globalisierung

UNICEF-Projektleiter Budhi Setiawan glaubt, dass sich HIV genau wie andere ansteckende Krankheiten der Welt, z.B. Malaria oder Denguefieber, auch wegen der Globalisierung ausbreiten: "Aceh ist jetzt nicht mehr so isoliert wie früher", erklärt der Arzt, "und seitdem die vielen Hilfsorganisationen vor Ort sind, haben wir eine bessere Registrierung der AIDS-Fälle."

Wegen Ehebruch festgenommene Frau in der Provinz Aceh, Foto: AP
Seit Einführung der Scharia auf Aceh, gelten islamische Kleidungsvorschriften für Frauen, bei Ehebruch kommt das Strafsystem der Scharia zur Anwendung.

​​In Aceh arbeiten UNICEF und Aids-Komitee auch mit anderen Institutionen zusammen, zum Beispiel wenn es um die Seminare geht, die regelmäßig von den Religionsämtern in Aceh veranstaltet werden.

Es ist ein Seminar für Paare, die heiraten wollen – und solche, die bereits frisch verheiratet sind. Doch im Saal sitzen sie nicht nebeneinander – auf dem Seminar des Religionamts sind die Sitze so aufgeteilt, dass alle Frauen auf der linken und alle Männer auf der rechten Seite sitzen. In Aceh gilt das islamische Gesetz, die Scharia.

Frauen und Männer, die nicht blutsverwandt und nicht verheiratet sind, dürfen sich nicht berühren. Getrennt in rechts und links werden die Paare vom Religionsamt auf die Ehe vorbereitet und beraten.

Tabuthema AIDS

Es wird unter anderem über Fortpflanzung und Schwangerschaft gesprochen, doch bis vor kurzem war das Thema HIV/AIDS noch tabu. Auf Aceh – genau wie in ganz Indonesien – wird über sexuelle Aufklärung kaum gesprochen. Doch wie ist Aufklärung über HIV/Aids möglich, wenn nicht über das Thema Sexualität informiert wird?

"Am Anfang war es nicht einfach", berichtet Yulizar, "aber wir vom AIDS-Komitee kommen ja auch aus Aceh und kennen die Sitten und Vorbehalte. Wir akzeptieren das, wir können sie nicht verhindern."

Yulizar ist heute dafür verantwortlich, den jungen Paaren über die Gefahren von HIV/Aids aufzuklären. Ihr Diavortrag entstand in Zusammenarbeit mit UNICEF, die viele solcher Vorträge sponsert. Der Vortrag ist – genau wie auch die Sitzordnung – an die Scharia angepasst: Es wird nichts gezeigt oder erzählt, was anstößig wirken könnte, wie etwa Modelle von Geschlechtsorganen, nackten Menschen oder Kondome.

Im Saal sind rund zehn Paare versammelt, die den Vortrag mit großem Interesse folgen. Eine davon ist Cut Yuliana. Sie ist 22 Jahre alt, seit drei Tagen verheiratet. Sie erzählt, dass jeder der hieran teilnimmt, Geld vom Religionsamt bekommt – 70.000 Rupiah pro Person, sagt sie.

Aufklärung durch das Religionsamt

Obwohl das Seminar vom Religionsamt für alle Paare eigentlich ein Pflichtseminar ist, ist die Teilnahme nicht gerade überwältigend. Doch Cut Yuliana meint, sie würde nicht wegen des Geldes dort hingehen.

"Es ist besser, dass man von Anfang an über AIDS Bescheid weiß", meint Yuliana. "Es ist eine tödliche Krankheit, auf die man achten muss. Und obwohl man schon verheiratet ist, kann es ja immer noch sein, dass der Mann untreu ist. Doch wenn wir unseren Partner richtig kennen, sollte man auch nicht allzu misstrauisch sein."

Misstrauen gilt nicht nur in Bezug auf den Partner. Auch die Verhütungsvariante kann manchmal zu Problemen führen. Das AIDS-Komitee betont immer wieder, dass Kondome die beste Methode sind, um sich vor AIDS zu schützen. Doch die Empfehlung geht manchen schon zu weit. Kardi vom "Religionsrat der Scharia" ist bei jedem AIDS-Seminar in Aceh mit dabei, um Missverständnisse auszuräumen.

"Die Menschen hier denken, dass der Gebrauch von Kondomen den außerehelichen Geschlechtsverkehr rechtfertigt. Das ist natürlich falsch", meint Kardi und fügt hinzu: "Bei allen Vorträgen müssen wir zuerst erklären, dass ein Kondom nur eines von vielen Verhütungsmitteln ist. Wir wollen verhindern, dass die Menschen den Gebrauch von Kondomen als eine Legitimation für 'Seitensprünge' benutzen."

Berücksichtigung der Scharia

Die Scharia in jedem Seminar zu berücksichtigen wäre vielleicht das Beste, was man als AIDS-Beauftragter in Aceh machen kann. UNICEF hat in Seminaren über 600 Religionsberater und 60 Religionsführer über HIV/AIDS und deren Konsequenzen aufgeklärt – in der Hoffnung, dass die Informationen an die Gemeinden weitergegeben werden.

Wichtig ist auch, Einheimische in die Aufklärungsarbeit zu integrieren und sie selbst Materialien zusammenstellen zu lassen. So wäre die Akzeptanz der Aufklärungskampagne innerhalb der Bevölkerung wohl viel größer.

Es war ein langer Weg, doch jetzt haben UNICEF und das AIDS-Komitee die volle Unterstützung vom Scharia-Rat, Religionsberatern und Religionsführern. Als nächstes möchte UNICEF noch die Schulen in die AIDS-Kampagne einbinden.

Sie arbeiten zum Beispiel mit einigen Stadtbildungsdiensten zusammen, um einen Sloganwettbewerb für Schüler aus Mittel- und Hochschulen zu veranstalten. Darüber hinaus organisiert UNICEF für Lehrer Grundlagenseminare über das Thema.

Und es ist notwendig, auch in Zukunft die Kampagnen weiterzuführen, meint Budhi Setiawan von UNICEF: "HIV ist keine temporäre Erscheinung wie der Tsunami. Wir müssen alle unsere Kräfte bündeln, um das Problem zu beseitigen."

Vidi-Athena Legowo

© DEUTSCHE WELLE 2007

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