Allein auf weiter Flur

Gegenwärtig besteht Afghanistans jüdische Minderheit aus einem einzigen Juden. Dabei hat das Land am Hindukusch eine besondere jüdische Vergangenheit, die in all den Kriegsjahren in Vergessenheit geraten ist. Von Emran Feroz

Von Emran Feroz

Einst gab es einen jungen Mann, der sich in seine Nachbarin verliebt hatte. Er war Muslim, sie Jüdin. Was für manche Menschen eine Hürde darstellt, war hier nicht der Fall. Sie fanden zueinander und wollten heiraten. Der Vater des Mädchens war dagegen, ließ sich jedoch nichts anmerken. Eines Tages war das Mädchen verschwunden. Ihr Vater, so hieß es, habe sie auf eine Reise geschickt. Nachdem die Wochen und Monate vergingen, macht sich der Junge auf den Weg, um das Mädchen zu suchen. Dank seiner wohlhabenden Familie konnte er um die ganze Welt reisen, seine Geliebte fand er jedoch nicht. Eines Tages erfuhr er, dass sie im "Heiligen Land", in Israel, sei. Dort angekommen wurde ihm jedoch die Einreise verwehrt. Nachdem er mit gebrochenem Herzen in seine Heimat zurückkehrte, wurde er verrückt und süchtig nach Wein – und so starb er auch nach einigen Jahren.

Dieses muslimisch-jüdische Liebesdrama, welches an die Geschichte von Romeo und Julia oder Laila und Majnun erinnert, stammt aus Afghanistan und wird in manchen Gegenden Kabuls bis heute erzählt. In einer Ecke der Hauptstadt ist die jüdische Geschichte des Landes bis heute erhalten geblieben.

In der "Gasse der Blumenverkäufer" im Kabuler Stadtteil Shar-e Nao kennt jeder Zebulon Simentov. Zebulon, der Jude, wie ihn die meisten Menschen hier nennen, ist der letzte Jude Afghanistans und stellt damit die gesamte jüdische Minderheit des Landes dar. Das war nicht immer so. Schätzungen zufolge lebten in den 1930er Jahren noch 40.000 Juden in Afghanistan.

Schutz für Afghanistans Juden

Im mehrheitlich muslimischen Land wurde die Minderheit nicht nur geduldet, sondern genoss einen besonderen Status. Bis heute erzählt man sich Legenden, dass die Paschtunen, die Gründer des modernen Afghanistans, ursprünglich von einem der verlorenen Stämme Israels abstammen. Selbst Mohammad Zahir Schah, der letzte König des Landes, bezog sich auf diese Mythen und versicherte den afghanischen Juden besonderen Schutz.

Ethnisch betrachtet waren und sind die afghanischen Juden jedoch keine Paschtunen, da sie Persisch sprachen. Genauer gesagt handelt es sich hierbei um die sogenannten bucharischen Juden, die sich schon vor Jahrhunderten in Afghanistan, vor allem im Westen des Landes in der Region um Herat, angesiedelt hatten. Antike persisch-hebräische Dokumente, die vor wenigen Jahren in dieser Region gefunden wurden, beweisen sogar, dass die Juden Afghanistans seit über einem Jahrtausend am Hindukusch beheimatet sind.

Zebulon Simentov, der letzte Jude Afghanistans blickt aus dem Fenster seiner Wohnung in Kabul; Foto: Reuters
Mit dem Beginn der sowjetischen Invasion von 1979 sowie den darauffolgenden Jahren der Zerstörung schrumpfte die Anzahl der Juden in Afghanistan rapide. Die meisten von ihnen zog es in die Vereinigten Staaten und nach Israel. In New York etwa lassen sich gegenwärtig ca. 200 jüdisch-afghanische Familien finden. Doch Afghanistan betrachten sie bis heute als ihre Heimat.

Die meisten dieser historischen Dokumente wurden umgehend von Israel ersteigert. Währenddessen sind jüdische Bauwerke, vor allem Synagogen, erhalten gebliebenen. Die Yu-Aw-Synagoge im westafghanischen Herat zählt sogar zu den ältesten der Welt und wurde vor einigen Jahren von der Aga-Khan-Stiftung restauriert.

Mit der Gründung des Staates Israel wanderte zwar eine große Anzahl afghanischer Juden aus, allerdings blieben auch viele. "Wir haben islamische und jüdische Feste gemeinsam gefeiert", meint etwa Zarghuna Khaled aus Kabul, die einst jüdische Nachbarn hatte. Erst mit dem Beginn der sowjetischen Invasion von 1979 sowie den darauffolgenden Jahren der Zerstörung schrumpfte die Anzahl der Juden rapide. Die meisten von ihnen zog es in die Vereinigten Staaten und nach Israel. In New York etwa lassen sich gegenwärtig ca. 200 jüdisch-afghanische Familien finden. Afghanistan identifizieren sie immer noch als ihre Heimat.

Die zwei letzten Juden Kabuls

In den 1990er Jahren verblieben nur noch zwei Juden in Kabul: Zebulon Simentov und Isaak Levi. Weltweite Bekanntheit erlangten die beiden letzten Juden Afghanistans durch ihren jahrelangen Zwist, dessen Hintergrund sogar als Stoff für mehrere Theaterstücke in den USA gedient hat. Sowohl Levi als auch Simentov bewohnten das Grundstück der Synagoge in Kabul und behaupteten, ihr rechtmäßiger Hüter zu sein. Der ältere Levi stammte wie Simentov ursprünglich aus Herat, kam jedoch vor diesen nach Kabul. "Zebulon war damals im sowjetischen Turkmenistan, dann kam er hierher und wurde von Isaak freundlich aufgenommen", meinte einer von Simentovs langjährigen Nachbarn. "Ein paar Jahre später begann dann ihr Streit. Zeitgleich wurden die Kriege in Afghanistan immer schlimmer", fügt er hinzu.

Was viele Menschen bis heute überrascht, ist die Tatsache, dass die beiden Juden selbst nach der Machtübernahme der Taliban in den 1990er Jahren weiterhin in Kabul blieben und diese Zeit auch überstanden. Tatsächlich ging Simentovs und Levis Streit auch in dieser Zeit erbarmungslos weiter, indem sich die beiden gegenseitig bei den Taliban anzeigten und der wildesten Sachen, etwa der Zuhälterei oder der Herstellung von Drogen und Alkohol, bezichtigten.

"Levi, der einen langen weißen Bart trug und deshalb hier den Spitznamen 'Mullah' bekam, meinte einmal, dass er Muslim geworden sei und Simentov ihn deshalb belästige. Da die beiden jedoch auch bei den Taliban bekannt waren, kaufte ihm das niemand von denen ab", meint ein weiterer Nachbar grinsend.

In den Fängen der Taliban

Letztendlich führte der Streit der beiden Juden jedoch dazu, dass sie von den Taliban verhaftet wurden. Im Gefängnis gingen die gegenseitigen Anschuldigungen solange weiter, bis man sie wieder frei ließ.

Isaak Levi, Zebulun Simentov's sworn enemy and the second-last Jew to live in Kabul (photo: Reuters)
Im Zwist: Der Streit zwischen Levi (hier im Bild) und Simentov hielt auch während der Herrschaft der Taliban in Afghanistan in den 1990er Jahren an. Der Konflikt ging so weit, dass sie sich gegenseitig bei den neuen islamistischen Machthabern anzeigten und sich sogar der Zuhälterei oder der Herstellung von Drogen und Alkohol bezichtigten.

Im Jahr 2005 starb Levi. Seine Verwandten reisten nach Kabul, um seinen Leichnam nach Israel zu bringen und ihn dort zu beerdigen. Währenddessen war Simentov, wie er selbst hervorhebt, glücklich, endlich alleine zu sein.

Bis heute bringt er seine Verachtung gegenüber Levi zum Ausdruck: "Er war ein Scharlatan und Hexer und kein guter Jude", meint er etwa und bezieht sich damit auf eine der zahlreichen Nebentätigkeiten des vorletzten Juden Afghanistans. So machte sich Levi einen Namen, indem er den Menschen Amulette, in Afghanistan als "Taawiz" bekannt, anbot, die angeblich vor Krankheiten und Flüche schützen. Sein Klientel bestand hauptsächlich aus Muslimen.

Auch Simentovs Kundschaft ist muslimisch. Der letzte Jude Afghanistans schächtet Tiere und verkauft das koschere Fleisch, welches auch den Essensvorschriften der Muslime entspricht. Abgesehen davon führt er ein Kebabrestaurant direkt neben der verfallenen Synagoge. Simentovs Familie, seine Frau sowie seine zwei Kinder, leben in Israel. Auf die Frage, ob er vor habe, nach Israel zu reisen, meinte er lediglich: "Israel, was soll ich denn dort?" Jegliche jüdischen Feiertage sowie die damit verbundenen Rituale hält Simentov strikt ein und verrichtet diese alleine. Unter anderem hat ihn der nächste jüdische Geistliche in der Umgebung, ein Rabbi aus der usbekischen Hauptstadt Taschkent, eine spezielle Erlaubnis erteilt, sein eigenes Fleisch zu schächten. "Dafür braucht man eigentlich eine spezielle Ausbildung", betont Simentov.

Aus dem Status, letzter Jude des Landes zu sein, hat Simentov, der stets meint, in Armut zu leben, ein Geschäft gemacht. In den letzten Jahren haben ihn zahlreiche Journalisten aus dem In- und Ausland besucht. "Dollar, Euro oder Afghani?", ist dann immer Simentovs erste Frage. Ohne ein – wie er es bezeichnet – anständiges Honorar lässt er sich nicht interviewen. "Unter zweihundert Dollar mache ich das nicht", meinte er auch dieses Mal. "Ihr macht doch aus meiner Geschichte das Zehnfache!"

Emran Feroz

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