Blick ins Ungewisse

In Afghanistan blickt die Bevölkerung nostalgisch auf ihren Noch-Präsidenten Hamid Karzai. Gleichzeitig fürchtet sie die unsichere Zukunft, die mit dem neuen Präsidenten kommen wird. Von Emran Feroz

Von Emran Feroz

In den letzten Monaten und Wochen schritten die Afghanen trotz zahlreicher Drohungen durch die Taliban gleich zwei Mal zur Wahlurne. Was aber nun auf sie zukommen wird, steht in den Sternen. Nachdem im Juni das vorläufige Wahlergebnis bekannt gegeben wurde, droht die Lage zu eskalieren. Nach dem ersten Wahlgang hatte es eine Stichwahl gegeben, da keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erreicht hatte.

Abdullah Abdullah von der Nationalen Koalition, der sich nun nach einer Stichwahl deutlich hinter dem unabhängigen Gegenkandidaten Aschraf Ghani Ahmadzai befindet, will das Wahlergebnis nicht akzeptieren. Schon in den Wochen vor der Bekanntmachung überhäuften sich beide Präsidentschaftskandidaten mit zahlreichen Vorwürfen. Währenddessen blicken viele Menschen nostalgisch in die Vergangenheit. Dabei fällt der Blick vor allem auf einen Mann: Afghanistans scheidenden Präsidenten Hamid Karzai.

„Diese Straße war lange kaputt. Mittlerweile ist sie sehr gut befahrbar. So gut wie eine in Europa!“, meint Salim, ein Taxifahrer. Während der Fahrt schimpft er gerne. Außerdem fährt er wild. Sogar zu wild für afghanische Verhältnisse. Man meint schon fast, in einer Achterbahn zu sitzen. Dann bremst er wieder ruckartig, während ihm Passanten auf der Straße den Vogel zeigen.

Die Straße, von der Salim sprach, ist jene, die man von Kabul nach Paghman befahren muss. Tatsächlich ist sie tadellos. „Karzai hat uns vorangebracht, ich merke das tagtäglich“, beteuert Salim weiter. Umso weniger versteht er, warum einige Afghanen über ihren Staatschef schimpfen. „Jene, die über ihn lästern, werden es schon bald bereuen“, ist er sich sicher.

Karzai – der Modernisierer

Studentinnen an der Universität von Herat; Foto: DW/Hoshang Hashemi
Obwohl der Staat in der Ära Karzai vor allem im Bereich Frauen- und Menschenrechte versagt hat, wünscht sich ein Teil der Afghanen Präsident Karzai zurück.

So abstrus dieser Gedanke klingen mag, umso vorherrschender wirkt er zurzeit in Afghanistan. Es ist vor allem das einfache Volk, das nicht weiß, was nun – nach Karzai – auf es zukommen wird.

Aus diesem Grund zieht man es vor, zunehmend auf die „Errungenschaften“ der Karzai-Regierung aufmerksam zu machen. Je nach Berufszweig gibt es eine andere Ansicht. Während Salim, der Taxifahrer, die neuen Straßen toll findet, feiert Abdullah, der im Kabuler Diplomatenviertel Wazir Akbar Khan ein Internet-Café besitzt, das afghanische 3G-Internet. „Ohne Probleme kann man hier twittern oder seine Facebook-Nachrichten am Handy überprüfen. Außerdem gibt es noch W-Lan. Vor einigen Jahren wäre das unvorstellbar gewesen“, meint der euphorische Jungunternehmer.

„Es gibt hier Leute, die sich via Facebook über Karzai aufregen, während sie Zuhause am Laptop sitzen und permanent online sein können. Paradox, denn ohne ihn hätten sie wohl gar keine Internetverbindung,“ stellt Abdullah fest.

Später Ruhm

Kurz vor seinem Abtreten wird Hamid Karzai noch Ruhm zuteil. Er wird als Modernisierer betrachtet. Auch seine politischen Fähigkeiten finden plötzlich Beachtung. Daran sind jene Männer, die ihn beerben sollen, allerdings nicht ganz unverantwortlich.

Während Karzai sich in den zwölf Jahren seiner Amtszeit immer als kritikfähiger Staatsmann präsentiert hat, haben die zwei übrig gebliebenen Präsidentschaftskandidaten schon unlängst bewiesen, dass sie genau diese Eigenschaften nicht mit sich tragen. Aufgrund kritischer Fragen wurden Journalisten nicht selten angepöbelt oder mundtot gemacht, während auch ihre rhetorischen Fähigkeiten zu wünschen übrig ließen.

Abgesehen davon brachte es Hamid Karzai immer wieder zustande, alle Konfliktparteien – egal ob ehemalige Taliban-Kämpfer, Kommunisten oder Kriegsfürsten der Nordallianz – an einen Tisch zu bringen.

Dies droht nun zu zerbrechen. Deswegen ziehen viele Afghanen – vor allem in Großstädten wie Kabul – einen stabilen Status Quo vor, anstatt in eine ungewisse Zukunft zu blicken. Dabei werden die Fehler, welche die Karzai-Regierung begangen hat, oft und gerne übersehen. Seit der Mann mit der Karakul-Mütze am Machthebel sitzt, haben vor allem die Korruption sowie der Opiumanbau im Land zugenommen.

Angst vor Post-Karzai-Ära

US-Außenminister John Kerry vermittelt zwischen den beiden afghanischen Präsidentschaftskandidaten Abdullah und Ahmadzai; Foto: AFP/Getty Images
US-Außenminister John Kerry reiste eigens nach Kabul ein, um die beiden zerstrittenen Präsidentschaftskandidaten miteinender zu versöhnen.

Dass Personen aus Karzais unmittelbarem Umfeld – allen voran seine eigenen Brüder – tief ins Drogengeschäft verwickelt waren und immer noch sind, ist längst kein Geheimnis mehr. Unter Hamid Karzai, der in der Vergangenheit oftmals aufgrund seiner begrenzten Macht als „Bürgermeister von Kabul“ verspottet wurde, haben sowohl der afghanische Staat als auch die meisten seiner Institutionen – auch und vor allem in Bezug auf Frauen- und Menschenrechte – völlig versagt.

Doch wäre die Korruption nicht auch mit einem anderen Kandidaten in den Präsidentenpalast eingezogen? „Korrupt ist hier sowieso jeder. Letztendlich kommt es doch darauf an, ob sich für die einfachen Menschen etwas ändert“, meint Zaman, der als Obstverkäufer sein Brot verdient. „Hier in Kabul herrscht wenigstens ein gewisses Maß an Frieden und Sicherheit. Alle haben Angst, dass dies nach Karzai nicht mehr der Fall sein wird“, sagt der alte Mann.

Die Befürchtung vieler Menschen ist nicht unberechtigt. Sie bezieht sich aber weniger auf Extremisten wie die Taliban, sondern vielmehr auf jene Parteien, die Karzai ablösen sollen.

Fragwürdige Helden

Unter höchster Spannung hat man in Kabul das Endergebnis der Stichwahl erwartet, die Mitte Juni stattfand. In den letzten Tagen und Wochen wurden die Betrugsvorwürfe immer lauter. Nachdem offiziell bekannt wurde, dass Aschraf Ghani Ahmadzai führt, begannen schon die ersten Unruhen.

Während Abdullah Abdullah das Ergebnis nicht anerkennen wollte, randalierten einige seiner Anhänger auf den Straßen und ließen ihrem Unmut freien Lauf. Da sowohl Ahmadzai als auch Abdullah blutige Kriegsfürsten um sich geschart haben, besteht die Gefahr, dass verfeindete Milizen plötzlich aufeinander losgehen. Auch mitten in Kabul. 

Mittlerweile haben sich die zwei Kandidaten "versöhnt" – nachdem US-Außenminister John Kerry persönlich angereist ist, um den Streit zu schlichten. Wie lange dies so bleiben wird, ist fragwürdig. Von dieser Lage profitieren nämlich vor allem die Taliban. Da die Gruppierung beide Kandidaten ablehnt, wünscht sie sich vermutlich, dass sie sich weiterhin gegenseitig bekämpfen.

Währenddessen sind die Straßen Kabuls jedoch nicht nur von verstaubten Wahlplakaten geprägt, sondern auch von anderen Gesichtern vergangener Zeit. Beliebt sind vor allem der einstige Präsident Afghanistans, Mohammad Najibullah Ahmadzai, sowie der frühere Führer der Nordallianz, Ahmad Schah Massoud.

Beide wurden ermordet und werden von verschiedenen Bevölkerungsgruppen bis heute als Helden gefeiert. Auch ihre Fehler und ihre Verbrechen werden gerne vergessen. Stattdessen hat man das Gefühl, dass ihre Gesichter allgegenwärtig sind, vor allem an Autos und Hauswänden.

In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob auch ein dritter Mann das Zeug dazu hat, in diese fragwürdige Heldenrunde aufgenommen zu werden. In Hamid Karzais Heimatstadt Kandahar lässt sich jetzt schon keine Ecke finden, in der man nicht vom Mann mit der Karakul-Mütze edelmütig angestarrt wird.  

Emran Feroz

© Qantara.de 2014

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de