Die Saat der Gewalt

Die Muslimbruderschaft als ehemals stärkste und bestorganisierte Oppositionsgruppe Ägyptens ist heute verboten. Auch ihre Funktion als Leitbild hat sie in den Augen der Jüngeren verloren, die nicht mehr an Gewaltfreiheit glaubt, so wie sie führende Köpfe der Muslimbrüder im Exil vertreten. Von Paolo Gonzaga

Von Paolo Gonzaga

Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi sieht sich heute mit einem dschihadistischen Aufstand im Sinai unter Leitung der lokalen Kräfte von IS und Al-Qaida konfrontiert sowie neuen, innerägyptischen Terrorgruppen, die in den ägyptischen Städten an Boden gewinnen und immer gewaltsamer vorgehen.

Die jüngsten Angriffe auf die koptische Kathedrale in Kairo gingen offenbar auf das Konto der sogenannten Ikhwani-Anhänger – eine der neuen, lokalen Terrorgruppen Ägyptens. Nur zwei Tage vor den Anschlägen auf die Markuskathedrale bekannte sich die Gruppe Hasm zum Mord an sechs Polizisten in Gizeh.

Hasm steht für "Haraka Sa'waid Masr". Die Gruppe errang erstmals im Juli 2015 traurige Bekanntheit durch den Mord an Mahmoud Abdel-Hamid, einem Polizeioffizier im Gouvernement Al-Fayyum. 2016 bekannte sich die Gruppe zu den Mordversuchen an zwei hochrangigen Mitgliedern der ägyptischen Regierung: dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt Zakaria Abdel Aziz im August und dem Richter Ahmed Abdul Futuh im November. Die Bewegung versuchte zudem, den renommierten Gelehrten Ali Gum'a zu ermorden, den ehemaligen Großmufti von Ägypten.

Hasm ging aus dem Zorn junger ehemaliger Mitglieder der Muslimbruderschaft hervor und entwickelte sich im Kontext der brutalen Unterdrückung durch den ägyptischen Staatspräsidenten Al-Sisi. Sie entstand, nachdem die Muslimbruderschaft als Reaktion auf die Maßnahmen des Regimes sogenannte Abschreckungskomitees gründete.

Das Massaker am Rabia-al-Adawiyya-Platz als Wendepunkt

Die Massentötung von eintausend Demonstranten auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz und auf dem Al-Nahda-Platz im Jahr 2013 markierte einen Wendepunkt. Im Anschluss an die Massaker schlossen sich junge Ägypter und Anhänger islamistischer Gruppen – aus der Muslimbruderschaft und salafistischen Dschihadisten – zu einer neuen militant-islamistischen Bewegung zusammen.

Todesopfer nach der Erstürmung der Protestlager am Rabia-al-Adawiyya-Platz in Kairo; Foto: AFP/Getty Images
Gewalt als Fanal zur Gegengewalt: "Die Massentötung von eintausend Demonstranten auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz und auf dem Al-Nahda-Platz im Jahr 2013 markierte einen Wendepunkt. Im Anschluss an die Massaker schlossen sich junge Ägypter und Anhänger islamistischer Gruppen – aus der Muslimbruderschaft und salafistischen Dschihadisten – zu einer neuen militant-islamistischen Bewegung zusammen", schreibt Paolo Gonzaga.

Diese Gruppen griffen rasch zur Gewalt und formulierten den Slogan "alles außer Kugeln". Die erste Gruppe waren die Ultras Rabaawi und Nahdawi. Sie setzten urbane Guerilla-Taktiken ein, warfen Molotowcocktails auf Sicherheitskräfte und griffen nationale Institutionen an.

Die Debatte über den Einsatz von Gewalt stellte die Muslimbruderschaft vor eine Zerreißprobe. Bewegungen, wie die Helwan-Brigaden, die Bewegung der Revolutionären Bestrafung und das Ausführungsbataillon sahen sich selbst als Widerstandsbewegung, die sich der Gewalt als legitimes Mittel im Kampf gegen das Sisi-Regime bediente und Anschläge gegen Staats- und Sicherheitskräfte verübte. Auch beschuldigten sie die Gesellschaft des Abfalls vom Islam (Apostasie), so wie es dschihadistische Gruppen üblicherweise tun.

2015 schlossen sich fünf dieser militanten Gruppen zu verschiedenen Volkskomitees zusammen, die sich u.a.  Volkswiderstand, Bestimmung, Revolutionäre Bestrafung, Bewegung für die Revolution in Bani Suwaif und Ausführung nannten. Diese Komitees zielten vorwiegend auf Niederlassungen internationaler Konzerne ab – wie beispielsweise auf Restaurants von Kentucky Fried Chicken – sowie auf staatliche Institutionen – beispielsweise Polizeiwachen. Das Volkskomitee von Gizeh bekannte sich zum Mord an Generalstaatsanwalt Hischam Barakat, einem der Architekten der Repression gegen die Muslimbruderschaft seit dem Militärputsch.

Zerfaserter militant-islamistischer Widerstand

Die Sprache all jener Gruppen verrät die enge Verbindung zur Muslimbruderschaft und ihre relative Distanz zu anderen, rein dschihadistischen Gruppen. Die Aktivitäten dieser Volkskomitees schwächten sich jedoch in jüngster Zeit aufgrund der wachsenden Dominanz der Hasm-Bewegung ab – eine Gruppierung, die eher panislamistische Positionen vertritt. So gratulierten ihre Führungskader den Mudschahedin nach der Eroberung der syrischen Stadt Aleppo und hießen mit der Revolutionsbrigade ("Liwa al-Thawra") eine neue militante ägyptische Gruppe willkommen, die in ihren Augen "ein Mitglied des gesegneten Widerstands" ist.

Nach der Explosion in koptischer Kirche Peter und Paul in Kairo im Dezember 2016; Foto: AFP/Getty Images
Ägyptens Christen im Visier militanter Islamisten: Nach einem Selbstmordanschlag eines 22-Jährigen während eines Gottesdienstes in der Kirche Peter und Paul in Kairo im Dezember 2016 machte das ägyptische Innenministerium führende Vertreter der Muslimbruderschaft als Drahtzieher für das Attentat verantwortlich. Die Islamisten hätten den Selbstmordattentäter und seine Helfer von Qatar aus finanziert und ausgebildet, hieß es in einer Mitteilung des Innenministeriums. Der Anschlag ziele darauf ab, einen "massiven Konflikt zwischen den Religionen herbeizuführen".

Als am 21. August des vergangenen Jahres ein Polizist und ein Soldat getötet wurden, ließ die Revolutionsbrigade in ihrem Bekennerschreiben verlautbaren: "Diese Operation ist die Antwort auf die Massaker einer kriminellen Regierung, die für die Massaker auf dem Rabia-al-Adawiyya-Platz und dem Al-Nahda-Platz verantwortlich ist und deren Opfer wir dieser Tage gedenken". Hier zeigt sich die Verbindung der Gruppe zur Muslimbruderschaft deutlich.

Zwei Monate später bekannte sich die Revolutionsbrigade zur Ermordung des Generalmajors Adil Rijai in Kairo als Vergeltung für die Erschießung Mohammed Kamals, einem führenden Kopf der Muslimbruderschaft. Im Januar 2015 wurde auf "ikhwanonline" – einer von der extremistischen Front um Mohammed Kamal oder Mohammed Montasser kontrollierten Website – ein Artikel veröffentlicht, der offen die Rückkehr zum "Heiligen Krieg" thematisierte: "Der Imam Hassan al-Banna stellte einst die Dschihad-Brigaden zusammen und entsandte sie mit dem Auftrag nach Palästina, die zionistischen Besatzer zu töten. Der zweite Führer, Hassan al-Hudaibi, baute die Geheimorganisation wieder auf, um das Blut der britischen Besatzer zu vergießen".

Der neue Aufruf der Muslimbruderschaft zum Dschihad erfolgte, nachdem der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi die repressiven Maßnahmen gegen die Bruderschaft verstärkte und viele Unterstützer inhaftierte. Die radikalsten Strömungen und Diskurse werden über neue Online-Fernsehplattformen verbreitet, die nach 2013 in der Türkei eingerichtet wurden.

Graffiti in Kairo zeigt inhaftierten Ex-Präsident Mohamed Mursi; Foto: Reuters
Fanal gegen Mohamed Mursi und die Muslimbrüder: Seit der Absetzung von Ex-Präsident Mursi hat der Staat die Einrichtung von insgesamt 16 neuen Gefängnissen angeordnet. Ägyptens höchstes Gericht hatte im letzten November das Todesurteil gegen Ex-Präsident Mohamed Mursi gekippt. Der Prozess wegen eines Gefängnisausbruches solle neu aufgerollt werden, ordneten die Richter in Kairo an. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er habe während der Arabischen Aufstände 2011 gemeinsam mit der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah eine Flucht aus der Haftanstalt organisiert.

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Die teilweise von Religionsgelehrten (Ulama) in der Türkei kontrollierten Programme umfassen zwei besonders radikale: "Mukammiliin" (wir marschieren weiter) und "Al-Sharq" (der Osten). Nach der Erschießung Mohammed Kamals durch Sicherheitskräfte nahmen die einflussreichen Ulamas Essam al-Talima und Mohammed al-Saghir zu dessen "Märtyrertum" in "Al-Sharq" und "Al-Jazeera" Stellung. Beide sind maßgebliche Gelehrte der Muslimbruderschaft, der letztgenannte sogar ein ehemaliger Parlamentsabgeordneter. In ihrem Kommentar rechtfertigten sie die Racheakte mit Bezugnahme auf den Grundsatz "Auge um Auge und Zahn um Zahn".

Diese Stellungnahmen lassen keinen Zweifel daran, dass der Slogan der alten Führungsgarde "Unser Pazifismus ist mächtiger als Eure Kugeln" und die damit verbundenen politischen Praktiken in einer tiefen Krise stecken. Der Überzeugung, Gewaltlosigkeit sei das Mittel der Wahl, ist mittlerweile eine junge Bevölkerung entgegengetreten, die sich unter der staatlich verordneten Repression zunehmend radikalisiert hat.

Während innerhalb der Muslimbruderschaft die Meinung vorherrschte, Gewalt sei nur begrenzt zulässig, da diese in extreme Zustände wie in Syrien gipfeln könnte, hat sich das Meinungsspektrum vor allem unter den jüngeren Anhängern der Muslimbrüder nach deren Auflösung in Ägypten stark ausdifferenziert.

In ihrer Rhetorik vergleichen ägyptische islamistische Aktivisten die Leiden der heutigen Muslime mit denen in der Ära von Präsident Gamal Abdel Nasser. Und mehr und mehr junge Menschen lassen sich von Sayyid Qutb inspirieren, dem Vater des zeitgenössischen Dschihadismus, der unter Nasser zum Tode verurteilt und gehängt wurde. Und während sich die Abwärtsspirale der Gewalt in Ägypten heute immer schneller dreht, wird jedwede ideologische Abkehr von der Gewalt durch die blinde Repression des Regimes ein Riegel vorgeschoben.

Paolo Gonzaga

© ResetDoc 2017

Aus dem Englischen von Peter Lammers