''Übersetzen ist wichtigster Kanal im Dialog der Kulturen.''

Dr. Abdo Abboud, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Damaskus, beklagt, dass es zu wenige arabische Germanisten gibt, die sich für moderne deutsche Literatur interessieren.

Dr. Abdo Abboud, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Damaskus, beklagt, dass es zu wenige arabische Germanisten gibt, die sich für moderne deutsche Literatur interessieren.

Dr. Abdo Abboud, Foto: privat
Dr. Abdo Abboud

​​Herr Professor Abboud, Sie haben in einem Vortrag an der Universität Bonn gesagt, literarische Übersetzungen seien für einen Dialog der Kulturen von ganz besonderer Bedeutung. Worin liegt diese Bedeutung Ihrer Meinung nach?

Dr. Abdo Abboud: Die Literatur ist ein Spiegel der sozialen, der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse eines Volkes, einer Gesellschaft und einer Kultur. Wenn literarische Werke aus einer Fremdsprache übersetzt werden, werden die Rezipienten in der neuen Sprache in die Lage versetzt, Einblick in die gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse dieses Volkes oder dieser Nation zu erhalten.
Die Literatur ist auch deshalb ein sehr wichtiges Mittel im Dialog der Kulturen, da dieser Dialog Kanäle benötigt. Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Fremdsprachenunterricht, durch den man eine andere Kultur kennen lernt oder die Übersetzung von literarischen Werken. Dem Fremdsprachenunterricht sind natürlich Grenzen gesetzt, da man nicht alle möglichen Sprachen lernen kann. Daher wird die Übersetzung der wichtigste Kanal im Dialog der Kulturen bleiben.

Sie haben zu Beginn der 80er Jahre Ihre Doktorarbeit mit dem Titel ‚Die Rezeption des modernen deutschen Romans in den arabischen Ländern’ vorgelegt. Wie schätzen Sie das Interesse in den arabischen Ländern an deutscher Literatur ein?

Dr. Abboud: Man könnte sagen, es gibt zum einen ein Interesse für ausländische Literatur im Allgemeinen, das sich in verschiedenen Formen äußert. Es gibt zum Beispiel Zeitschriften, die nur übersetzte Texte aus fremdsprachigen Literaturen veröffentlichen. In Syrien erscheint die Zeitschrift ‚Al-Adaab al-Adschnabijja’ (Ausländische Literaturen), in Saudi-Arabien die Zeitschrift ‚Nawafis’ (Fenster), die nur übersetzte Texte veröffentlicht. Und die literarische Übersetzungsbewegung in der arabischen Welt ist inzwischen über 100 Jahre alt, man kann sogar sagen, sie geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Seitdem werden sehr viele Werke aus der europäischen Literatur übersetzt. Das war natürlich zuerst französische Literatur, weil enge Beziehungen zu Frankreich existierten. Die ersten von Muhammad Ali Entsandten gingen nach Paris, nicht nach Berlin. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts begann eine Übersetzungsbewegung aus dem Deutschen ins Arabische, die bis heute anhält. Diese Bewegung durchlebte allerdings verschiedene Phasen. Zu Beginn gab es niemanden, der des Deutschen mächtig gewesen wäre. Deshalb übersetzte man aus Mittlersprachen, aus dem Französischen und Englischen. Seit Mitte der 60er Jahre änderte sich die Lage radikal, es kehrten die ersten arabischen Germanisten nach Ägypten zurück, und es setzte eine rege Übersetzungstätigkeit aus dem Deutschen ein. Doch sogar schon vorher gab es Absolventen deutscher Universitäten, die keine Germanisten waren, sondern vielleicht Geographen oder Philosophieabsolventen, und Literatur übersetzten - z.B. Mahmud Ibrahim al-Dassuki, der Goethe und Thomas Mann übersetzt hat. Sogar eine der vielen Faustübersetzungen erfolgte schon in den 30er Jahren direkt aus dem Deutschen. Seit Mitte der 60er Jahre gab es echte Germanisten, die direkt aus dem Deutschen übersetzten.

Es fragt sich natürlich, wie viele Leute das lesen, welche Auflagen die Bücher haben, aber ein Ausdruck des Interesses an der deutschen Literatur ist die Tatsache, dass von manchen Werken deutscher Literatur mehrere Übersetzungen existieren. Von Goethes ‚Leiden des jungen Werther’ gibt es mittlerweile fast zehn Übersetzungen...

Woran liegt das? Weiß man nichts voneinander oder werden die Übersetzungen immer wieder verbessert?

Dr. Abboud: Das hat verschiedene Gründe. Es gibt zum Beispiel eine Übersetzung aus einer Mittlersprache, und ein neuer Übersetzer will nun eine präzisere Übersetzung direkt aus dem Deutschen leisten. Ein anderer ist aus einem anderen Grund mit der alten Übersetzung unzufrieden, vielleicht weil sie fehlerhaft ist, und er will eine bessere machen. Oder es gibt eine Übersetzung, die in Ägypten entstanden ist, und ein syrischer Übersetzer will nun eine ‚syrische’ Übersetzung anfertigen. Manchmal ist es auch Mangel an Koordination, dass in verschiedenen Ländern verschiedene Übersetzungen des gleichen Werkes angefertigt werden. Das ist natürlich einerseits vielleicht Energievergeudung, andererseits entstehen auf diese Weise Übersetzungen, die verschiedene Sichtweisen und Interpretationen eines Textes widerspiegeln.

Welchen Namen verbindet man spontan mit deutscher Literatur in der arabischen Welt?

Dr. Abboud: An erster Stelle natürlich Goethe. Dazu haben die Goethe-Institute beigetragen, aber auch die schon sehr früh einsetzende Goethe-Rezeption, ganz im Gegensatz zur arabischen Schiller-Rezeption. Schiller ist in der arabischen Welt mehr oder weniger unbekannt.
Schiller schrieb in erster Linie Theaterstücke. Rein historisch gesehen, begann die arabische Schiller-Rezeption zwar vor der Goethe-Rezeption - schon 1902 oder 1905 existierte eine Übersetzung von ‚Kabbale und Liebe’, auch von ‚Wilhelm Tell’. Und die Werke haben eine große Rolle gespielt, aber es waren Übersetzungen aus dem Französischen. Später ist es irgendwie eingeschlafen. Bei Goethe hingegen kam sein Interesse für den Orient und den Islam hinzu, er war jemand, der sich auch für uns interessierte. Durch die Übersetzung seiner Werke fühlten sich die Araber auch in ihrer eigenen kulturellen Rolle bestätigt. Außerdem umfasst Goethes literarisches Werk verschiedene Genres, er hat Theaterstücke geschrieben, Gedichte, Romane, Erzählungen und Märchen. Das alles trifft auf Schiller nicht zu.

Neben Goethe gibt es aber noch andere deutsche Schriftsteller, die einen großen Einfluss auf die arabische Literatur ausgeübt haben. Denken Sie zum Beispiel an Bertold Brecht. Schon in den 60er Jahren waren die arabischen Theatermacher geteilt in Brechtianer und Anti-Brechtianer. Ich glaube, es gibt keinen anderen ausländischen Schriftsteller, der einen solchen Einfluss auf die arabische Dramatik hatte. Die meisten seiner Werke liegen in arabischer Übersetzung vor, häufig sogar zwei- oder dreifach. Aber nicht nur seine Theaterstücke, auch seine Gedichte und Erzählungen. Brecht genießt eine große, breite produktive Rezeption und Leserrezeption.

Jetzt aber ist der große Renner in der arabischen Welt Hermann Hesse. Die arabischen Übersetzer wetteifern derzeit miteinander in der Übertragung seiner Werke. Fast alle seine Werke liegen jetzt auf Arabisch vor, und mehrere auch wieder einmal in mehreren Übersetzungen, manche direkt aus dem Deutschen, andere aus dem Englischen. Wenn man heute in einer arabischen Buchhandlung nach deutscher Literatur fragt, findet man fast nur Hesse. Natürlich erhielt die Rezeption von Günter Grass nach der Verleihung des Nobelpreises einen Auftrieb. Es wurden neue Werke übersetzt, auch die Blechtrommel liegt in zwei verschiedenen Übersetzungen vor. Dennoch kann in der arabischen Welt noch nicht von einer breiten Grassrezeption gesprochen werden. Das ist mit Hesse oder Goethe oder Brecht nicht zu vergleichen.

In den letzten Jahren haben einige junge deutsche Autoren und Autorinnen viel gerühmte Erstlingswerke oder schon ein zweites oder drittes Werk vorgelegt. Man spricht sogar vom sogenannten ‚Fräuleinwunder’, weil viele dieser Literaten junge Frauen sind. Ist davon in den arabischen Ländern etwas zu spüren, gibt es eine Möglichkeit, diese neuen Autorinnen und Autoren kennen zu lernen, etwa über die Literaturzeitschriften?

Dr. Abboud: Leider sind diese Autoren in der arabischen Welt unbekannt. Ich glaube, Patrick Süskind, auch wenn er nicht einer der jüngsten ist, ist neben Günter Grass einer der wenigen zeitgenössischen deutschen Autoren, die gelesen werden. Die ganz jungen Autoren sind überhaupt nicht rezipiert worden. Theoretisch gibt es natürlich die Möglichkeit, indem man Texte von ihnen für eine Literaturzeitschrift übersetzt. Aber im Großen und Ganzen wird die junge deutsche Literatur wenig rezipiert. Das liegt in erster Linie an den Germanisten, an den Übersetzern. Sie tun eben wenig für die Übersetzung dieser Autoren. Ob man für die Werke dieser Autoren Verleger findet, das ist eine andere Frage. Man hat es nicht ausprobiert, ich würde es aber nicht ausschließen. Aber zunächst müssen die Texte übersetzt werden. Als der Roman ‚Das Parfüm’ von Patrick Süskind übersetzt wurde, war man auch skeptisch. Inzwischen ist dieser Roman hier erfolgreich. Die Übersetzung von Nabil Haffar erschien zunächst in den Emiraten, jetzt ist eine Neuauflage in Syrien erschienen. Man kann nicht sagen, dass die neue deutsche Literatur nicht ankommt, aber es muss die Übersetzer geben, die die Initiative ergreifen. Das Problem ist, dass sich unter den arabischen Germanisten kaum jemand für die deutsche Literatur der Gegenwart interessiert.

Die arabische und die deutsche Sprache sind sehr unterschiedlich. Führt das Ihrer Meinung nach zu besonderen Übersetzungsproblemen?

Dr. Abboud: Das ist eine interessante Frage. Das Arabische und das Deutsche sind zwei verschiedene Sprachsysteme, das ist eine Binsenwahrheit. Insofern dürfte es Übersetzungsprobleme auf der ganzen Linie geben. Nicht nur in Bezug auf die Terminologie, da kann man Lösungen finden, da gibt es Methoden. Die großen Probleme tauchen bei literarischen Übersetzungen auf. Zum Beispiel bei den Dialogen, nicht nur bei Theaterstücken, auch bei Erzählungen oder Romanen. Welche Stilebene ist die richtige? Oder wenn wir die Lyrik betrachten, wird es noch schwieriger. Ich persönlich halte Lyrik für unübersetzbar, sie verliert meiner Meinung nach alle Qualitäten, der Verlust ist ungeheuer groß. Man sollte die Grenzen der Übersetzung von Lyrik nicht außer Acht lassen. Es besteht nur die Möglichkeit, nachzudichten wie es zum Beispiel Friedrich Rückert gemacht hat. Aber das kann man nicht als Übersetzung bezeichnen. Das ist eine Nachdichtung und damit eine literarische Gattung für sich.

In Deutschland bieten einige Universitäten eine Ausbildung für Übersetzer an, auch für orientalische Sprachen. Kann man in Syrien zum Übersetzer ausgebildet werden, oder wie wird man dort zum Übersetzer?

Dr. Abboud: Leider kann man bis heute an keiner syrischen Universität Germanistik studieren, es gibt lediglich Deutsch als Fremdsprache an den Universitäten als zweite europäische Sprache bei den Anglisten und den Romanisten. Jetzt gibt es auch Lehr- und Lernzentren für Deutsch als Fremdsprache, es gibt auch das Goethe-Institut, aber das geht selten über die Grundstufe hinaus. Ich habe einige Male Übersetzerkurse am Goethe-Institut angeboten. Es kamen auch relativ viele Interessenten, aber das waren Absolventen deutscher Hochschulen. In der Tat ist es so, dass die Übersetzer, die in Syrien aus dem Deutschen übersetzen, entweder dieser Gruppe von Germanisten angehören, die die syrische Regierung Ende der 60er-, Anfang der 70er Jahre ausbilden ließ, eine Gruppe von über 20 Germanisten. Ich gehöre genauso dazu, wie etwa Nabil Haffar. Ansonsten sind es Leute, die in Deutschland etwas anderes studiert haben. Einer der sehr guten Übersetzer, Adnan Habbal, hat in Heidelberg Medizin studiert. Die andere Möglichkeit, die man auch nicht unterschätzen sollte, ist das Übersetzen aus einer Mittlersprache, das wird immer noch viel gemacht. Habermas wurde jetzt zum Beispiel aus dem Englischen übersetzt. Diese Möglichkeit wird als Option so lange weiterbestehen, so lange an den syrischen Universitäten kein Studienfach Germanistik angeboten wird.

Syrische Literatur ist ja leider in Deutschland auch weitgehend unbekannt. Der Schweizer Lenos Verlag hat drei syrische Autoren im Programm: jeweils einen Titel der beiden großen syrischen Literaten Hanna Mina und Zakariya Tamer sowie zwei Titel von Halim Barakat. Die wirklich bedeutende syrische Literatur ist bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden, das heißt die wichtigen Bücher von Mina und Tamer, aber auch Namen großer Autoren wie Haidar Haidar oder Hani al-Rahib fehlen völlig. Woran liegt das Ihrer Meinung nach. Interessiert sich niemand für syrische Literatur oder für das Land Syrien?

Dr. Abboud: Über dieses Problem kann man nur spekulieren. Man könnte zum Beispiel behaupten, dass die syrische Literatur nur wenig zu bieten hat. Aber das ist nicht richtig, es gibt eine ganze Reihe sehr übersetzungsrelevanter Autoren: Fawwas Haddad, Ulfa al-Idlibi, Haidar Haidar, Abd al-Salam al-Udschaili usw. Es gibt sogar einige Werke, die auch und gerade für deutsche Leser interessant sind. Nehmen Sie ‚Segel und Sturm’ von Hana Mina. Die Diskussion, die sich während des Zweiten Weltkriegs über Deutschland an der Küste in Latakkia abspielt: Als die französische Kolonialmacht den Menschen verbieten wollte, Radio Berlin zu hören, sind sie mit ihrem alten Radio in eine Höhle geflüchtet und haben den Sender dort gehört. Das gleiche gilt für Ulfa al-Idilbi und ihren Roman ‚Damaskus, Du trauriges Lächeln’. Da gibt es auch eine sehr interessante Diskussion über Deutschland und über Hitler und den Nationalsozialismus, die verschiedenen Positionen werden in diesem Roman wiedergegeben. Oder Romane von Khairy al-Dhahabi, seine Trilogie ist sehr interessant, der letzte Teil spielt in Deutschland. Es geht um einen syrischen Ingenieur, der der staatlichen Repression ausgesetzt wird und nach Deutschland flüchtet. Er erhält Asyl, findet Arbeit, heiratet, es tauchen die typischen Probleme auf, dann kehrt er mit seiner Tochter nach Syrien zurück, wo er sich nicht mehr anpassen kann. Es ist ein sehr interessanter Roman und sehr geeignet, ins Deutsche übersetzt zu werden. Also, es mangelt nicht an guten und an für deutsche Leser interessanten Texten.

Eine andere Theorie ist, dass Syrien und die syrischen Kulturinstitute nur wenig dafür tun, syrische Kultur im Ausland bekannt zu machen. Man macht den Schriftstellerverband unter anderem dafür verantwortlich, dass er zu wenig tut. An dieser Theorie ist auch etwas dran. Der Schriftstellerverband arbeitet nur mit Ländern zusammen, in denen es ähnliche Institutionen gibt, zum Beispiel mit dem russischen, dem chinesischen oder dem kubanischen Verband. Aber er hat überhaupt keine Kontakte zur westlichen Literatur. Aber auch das syrische Kulturministerium tut in diesem Bereich zu wenig. Man könnte auch sagen, die politische Situation sei schuld, es sei für Ausländer schwierig, nach Syrien zu kommen, Syrien sei insgesamt ein schwieriges Land. Aber das stimmt auch nicht. Das beste Beispiel ist der Übersetzer Hartmut Fähndrich, der fast jedes Jahr nach Syrien reist, und genauso viele andere auch. Also muss es noch einen anderen Grund geben. Ich glaube, es liegt an den Übersetzern, an der Struktur, den Verhältnissen der deutschen Übersetzerbewegung. Diese Bewegung wurde bis jetzt von einer Person dominiert, von Hartmut Fähndrich, der ein guter Freund von mir ist und den ich sehr schätze. Dennoch hat er eine dominante Position in dieser Szene, und das ist nicht gut. Dafür kann er nichts, und interessanterweise ist er oft in Syrien gewesen und hat an Symposien über syrische Literatur teilgenommen, aber er hat sich bisher nicht für syrische Literatur interessiert. Genauso Doris Kilias, sie war die erste, die syrische Erzählungen aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt hat, Ende der 70er Jahre, noch zu DDR-Zeiten. Danach hat ihr Interesse für syrische Literatur nachgelassen. Das Gleiche gilt für Wiebke Walter oder Regina Karasholi, sie fährt jedes Jahr nach Syrien und kennt die syrische Literatur sehr gut, aber sie hat sich entschieden, den Sudanesen al-Tajjib Salih zu übersetzen.

Möglicherweise ist es aber auch das Problem der Verlage. Ich vermute, sie würden derzeit keine syrische Literatur verlegen wollen.

Dr. Abboud: Ja, es gibt noch eine Theorie, nämlich eine politische: Die Literatur eines Landes wird erst dann interessant, wenn dieses Land auch politisch interessant ist. Das sehen wir ganz besonders an der palästinensischen Literatur. Syrien war in politischer Hinsicht für den Westen noch nicht interessant genug.

Noch mal zurück zu den deutschen Autoren. Sie haben einige Namen genannt, dabei aber einen unerwähnt gelassen, mit dem sich die arabischen Intellektuellen, und Sie ganz besonders, sehr intensiv auseinander gesetzt haben: Franz Kafka. Was macht Kafka so interessant für arabische Intellektuelle?

Dr. Abboud: Kafka versetzt Berge, nicht nur in Deutschland oder in anderen Ländern, sondern auch in der arabischen Welt. Die arabische Kafkarezeption ist sehr vielfältig. Sie ist nicht nur eine Leserrezeption, sondern auch eine produktive, eine poetische Rezeption. Zunächst ist da sein allegorischer Stil, was er schreibt, lässt sich auf viele Situationen verallgemeinern und deuten. Kafka ist bekannt für das offene Kunstwerk, seine Werke sind so deutungsoffen, dass sie sich auf viele Gesellschaften übertragen lassen. Andererseits gibt es das Interesse gerade an seinem Stil. Die meisten arabischen zeitgenössischen Erzähler ließen sich von seinem allegorischen Stil beeinflussen, sie wollten schreiben wie er. Denken Sie nur an Zakariya Tamer, die Parallelen zwischen seinen und Kafkas Geschichten sind sehr auffällig. Die Frage ist natürlich, warum möchte man in diesem Stil schreiben. Ein Teil der Autoren möchte zum Beispiel die Zensur umgehen, andere wollen dem Leser einen größeren Spielraum überlassen, er soll die Texte so deuten können, wie er das möchte, wie es seinem Erwartungshorizont entspricht. Trotzdem gibt es bis heute keine vollständige Übersetzung der Werke Kafkas, sie sind zerstreut auf verschiedene Verlage. Es gibt jetzt einen syrischen Übersetzer, Ibrahim Watfi, der sich vorgenommen hat, Kafkas Werke neu im Eigenverlag zu publizieren.

Sie sind jetzt Professor für Komparatistik an der Universität Damaskus. Früher aber haben Sie auch übersetzt. Widmen Sie sich jetzt nur noch der vergleichenden Literaturwissenschaft?

Dr. Abboud: Mehr oder weniger, ja. Ich beschäftige mich jetzt mit den übersetzten Werken unter literaturkritischem Aspekt. Auf diesem Hintergrund entstand mein Buch ‚Die Emigration der Texte’ (Hidschra al-Nusuus). Das sind Studien zur Übersetzung aus dem Deutschen ins Arabische, zu den deutsch-arabischen Literaturbeziehungen. Dann habe ich die deutschen, ins Arabische übersetzten Erzählungen untersucht, was sehr viel Arbeit war, denn ich musste diese in den verschiedenen Zeitschriften sammeln. So wurde ich von einem Übersetzer zu jemandem, der die Übersetzungen aus dem Deutschen literaturkritisch untersucht und kritisiert. Das heißt aber nicht, dass ich nie mehr etwas übersetzen werde.

Interview: Larissa Bender; © 2003 Qantara.de

Dr. Abdo Abboud, geb. in Syrien, studierte Arabische Sprache und Literatur in Syrien und Deutschland. 1984 legte er in Frankfurt seine Doktorarbeit unter dem Titel 'Deutsche Romane im arabischen Orient' vor. Seit 1999 ist er Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Damaskus. Einige Veröffentlichungen auf Arabisch:
- Der moderne deutsche Roman. Eine komparatistische Untersuchung. Damaskus 1993
- Die Emigration der Texte. Eine Studie über Literaturübersetzungen und Kulturaustausch. Damaskus 1995
- Die moderne deutsche Kurzgeschichte in arabischer Übersetzung. Damaskus 1996