Freitag, 11.04.2003 15:28

Lieber Michael, ich habe an keiner Demonstration teilgenommen, doch ich habe manches darüber gehört - von denjenigen, die sie für das einzige Mittel halten, an den Ereignissen ...

Lieber Michael,

ich habe an keiner Demonstration teilgenommen, doch ich habe manches darüber gehört - von denjenigen, die sie für das einzige Mittel halten, an den Ereignissen teilzuhaben. Ich hasse die festliche Stimmung dieser Demonstrationen und habe das Gefühl, dass die Menschen dort nur sich selbst darstellen und völlig unoriginell Dinge wiederaufleben lassen wollen, die doch zu den Ruinen ihres eigenen Lebens gehören.

Ich höre den Taxifahrern der Sammeltaxis und den Fahrgästen, denen ich dort zufällig begegne, zu. Sie alle sind stolz auf den Widerstand der Iraker, wollen aber nicht daran denken, dass der Krieg trotz allem entschieden ist und dass es für die Iraker keine Hoffnung auf Rettung gibt. Die Leute hier sind für den Irak, man kann ruhig sagen für Saddam Husain und sein Regime, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er Widerstand gegen die Amerikaner leistete und ihnen Verluste an Waffen und Menschenleben zufügte. Nicht der Friede interessiert die Menschen hier, für sie ist es wichtiger, um jeden Preis Widerstand gegen die Amerikaner zu leisten und ihnen gegenüber Tapferkeit zu beweisen, ohne dabei an die Folgen zu denken.

Es sind die gleichen Menschen, die die Geheimpolizei in Angst und Schrecken versetzt und denen sie sogar verbieten kann zu atmen. Ich verstehe nicht, wie Menschen, die von der Angst zerfressen werden, in der Konfrontation mit der größten Supermacht der Welt mutig sein können. Ich weiß es nicht, denke aber manchmal, dass die Menschen hier die Diktatur mehr als den Krieg und Erniedrigung und Folter mehr als den Tod fürchten. Ich verstehe es nicht, doch es macht mich traurig, Menschen zu sehen, denen vor allem daran liegt, wenigstens in Würde zu sterben, wenn sie diese Würde in ihrem Leben schon nicht erfahren durften.

Einmal fragten einige französische Zeitungen, wo denn die arabischen Massen seien. Sie seien wohl eine Illusion, denn man sähe sie nicht auf der Strasse für den Frieden kämpfen, während die Menschen in den entferntesten Ländern gegen den Irakkrieg demonstrierten. Ich möchte sogar sagen, dass der Frieden für diese Massen ein Luxus ist, an den sie gar nicht zu denken wagen. Sie denken vielmehr an andere, notwendigere Dinge. An Würde zum Beispiel, um nicht zu sagen an Medizin und Nahrung, deren Entbehrung doch eine viel größere Erniedrigung bedeutet.

Die Menschen haben nun, da die Iraker - auf welche Weise und aus welchen Gründen auch immer - den Amerikanern die Stirn bieten, das Gefühl, dass auch sie davon betroffen sind, solange es um Würde geht. Doch das ist gefährlich, denn die Würde ist eine altmodische Angelegenheit, zumindest keine ganz zeitgemäße. Woanders fordert man Frieden und Gerechtigkeit, hier jedoch geht es vor allem um die Ehre. Neben der Ehre kommen dazu Werte eines Stammesdenkens wie Mut, Opferbereitschaft und Kampf. Und all dies sind Werte, die sich auf Krieg beziehen, von Völkern, die immer wieder unterliegen und wenigstens einmal nach einem Sieg dürsten, oder zumindest nach einer würdigen Auseinandersetzung.

Die Verstrickung in solche Anachronismen in diesen Fragen sorgt dafür, dass wir auf dieser Basis nur schwer mit der Welt kommunizieren, mit ihr in einen Dialog treten oder uns an Auseinandersetzungen und Konfrontationen beteiligen können.

Die Welt versteht nicht, warum so viele Araber in Partisanenaktionen Selbstmord begehen. Doch die Araber – selbst diejenigen, die gegen solche Selbstmordaktionen sind – verstehen nicht, dass man diese Aktionen als unmoralisch bewertet. Sie betrachten sie zumindest als Zeichen hoher Opferbereitschaft und herausragender Tapferkeit.

Wahrscheinlich rettet eine große Schlacht wie der Krieg gegen den Irak ein wenig die Würde der Araber. Es ist ein großer Krieg, ein Krieg gegen die Welt, in dem eine Niederlage möglich ist und schon eine kurze Frist des Standhaltens einem Sieg nahe kommt. In diesem Kontext ist kein Platz für Politik, Wirtschaft, Interessen oder Kalkül. Es geht dabei ausschließlich um ein psychologisches Phänomen. Deshalb stellen wir aufs Neue die Frage: Wo stehen wir? In welcher Zeit leben wir?

Abbas Beydoun

Übersetzung aus dem Arabischen: Michaela Kleinhaus