Zwischen Zorn und Resignation: Iraks Christen fürchten die Rückkehr

Vor dem US-Einmarsch von 2003 lebten 1,5 Millionen Christen im Irak. Heute sind weniger als 300.000 von ihnen übrig. Sie fliehen nicht nur vor den IS-Terroristen, sondern auch vor der Gleichgültigkeit ihrer muslimischen Nachbarn. Aus Erbil informiert Anne-Beatrice Clasmann.

Erzbischof Thimothaeus Mussa al-Schamani hat resigniert. Der würdevolle Mann mit dem kurzen grauen Bart steht der Erzdiözese von Bartilla und Mar Mattai vor, die im Umland der irakischen Großstadt Mossul liegt. 2014 hatte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) Mossul und weitere irakische Städte eingenommen. Im Westteil von Mossul herrscht immer noch ihr Schreckensregime, das Christen zu «Ungläubigen» und Schiiten zu «Abtrünnigen» erklärt. 

«Ich glaube, in fünf Jahren gibt es im Irak keine Christen mehr, die Jungen wollen alle weg, diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten», sagt Al-Schamani. Er lächelt sanft, stützt sich auf seinen prächtigen Bischofsstab und seufzt leise. 

«Die Bischöfe waren früher viel kämpferischer, jetzt spürt man eine Perspektivlosigkeit», sagt Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth. Die Grünen-Politikerin beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Lage der Minderheiten im Irak. Anfang des Monats traf sie zusammen mit Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) Vertreter der Christen und der religiösen Minderheit der Jesiden im Nordirak. 

Den Christen geht es nicht viel anders als den Jesiden: Obgleich die IS-Terroristen inzwischen aus etlichen irakischen Städten und Dörfern vertrieben worden sind, zögern auch sie, in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückzukehren. Sie trauen dem Frieden nicht. Und sie fühlen sich nicht nur vom IS in ihrer Existenz bedroht.

«Die Menschen haben Angst vor der Rückkehr in ihre Dörfer», sagt Baschar Warda, Erzbischof der chaldäisch-katholischen Diözese von Erbil. Denn die politischen Verhältnisse, die dazu geführt hätten, dass der IS nach der Macht greifen konnte, hätten sich bis heute nicht geändert. Das Regime in Bagdad sei korrupt, «und so lange dieses System existiert, können wir keine bessere Lösung erwarten». 

Der syrisch-orthodoxe Erzbischof von Mossul, Nicodemus David Scharaf, geht noch einen Schritt weiter. «Ich sage nicht, dass es heute dieselbe Situation ist wie vor der Eroberung (durch den IS), sondern es ist schlimmer geworden», poltert er. Die Korruption der irakischen Regierung habe zugenommen.

Sein roter Bart bebt vor Erregung: «Der extremistische Diskurs der islamischen Brüder ist nicht nur geblieben, sondern stärker geworden», schimpft er. Sunniten und Schiiten, sie alle hätten sich in den vergangenen drei Jahren, als die Christen vor den Terroristen aus ihren Dörfern in der Provinz Ninive flohen, nicht solidarisch gezeigt. 

Auf seinem Smartphone hat Scharaf Bilder einer zerstörten Kirche im Ostteil Mossuls, aus dem die IS-Kämpfer inzwischen vertrieben wurden. Er sagt: «Ich hatte Schriften in meiner Kirche aus dem 2. Jahrhundert nach Christi Geburt, die waren nicht nur wertvoll für die Christen, das ist Weltkulturerbe. Alles wurde angezündet oder gestohlen. Sie haben alles zerstört, was unser Leben ausmachte.» Scharaf meint, das «Kalifat» des IS könne man notfalls mit Militärflugzeugen zerstören. Doch gegen die Ideen der islamistischen Terroristen habe bislang niemand ein wirksames Gegengift entwickelt. 

Entwicklungsminister Müller will den Jesiden und Christen helfen. Die Bundesregierung verspricht Geld, damit die Grausamkeiten dokumentiert werden können - die Verschleppung der Jesidinnen, die von den IS-Kämpfern als Sexsklavinnen missbraucht wurden, die Entführung von kleinen Jungen, die vom IS zu Terroristen umerzogen werden. Damit eine Versöhnung eines Tages realistisch wird.

Müller sagt: «Der Schutz der Minderheitenrechte, das ist ein ganz zentraler Punkt, der eingehalten werden muss.» Und: «Wir finden uns nicht damit ab, dass es keine Christen mehr geben soll in Mossul.» Allein bei den Betroffenen schwindet allmählich die letzte Hoffnung.

«Nur zehn jesidische Frauen wurden bisher durch die Offensive in Mossul befreit, weil viele Jesidinnen vom IS in andere Gebiete, die er noch kontrolliert, verschleppt wurden, zum Beispiel nach Al-Rakka in Syrien», berichtet der jesidische Schriftsteller Mirza Dinnayi von der Organisation Luftbrücke Irak. 

«Wir haben gehört, dass es einen Plan geben soll für die Stabilisierung von Mossul, aber wir wurden da gar nicht einbezogen», klagt der jesidische Journalist Chidr Domle. Die Jesiden fühlen sich ausgegrenzt, verdrängt, wie eine unbedeutende kleine Gruppe, auf die niemand mehr Rücksicht nehmen mag. Außerdem fürchten sie, dass der Machtkampf zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK), den nordirakischen Peschmerga und der Türkei in ihren Dörfern im Schindschar-Gebirge weiter eskaliert.

Der multireligiöse Irak war vor der US-geführten Invasion von 2003 ein fein gewobener Teppich, mit dem schiitischen und dem sunnitischen Islam als dominierenden Farben. Seine besondere Schönheit hatte dieser Teppich aber den vielen kleinen Farbsprengseln zu verdanken.

Nach der Gründung des Staates Israel hatten die Juden schrittweise das Land verlassen. Heute suchen viele der irakischen Christen, Jesiden, Sabäer und Schabak eine neue Heimat. Einen Großteil von ihnen zieht es nach Europa. Allein im vergangenen Jahr wurden 29.000 Jesiden in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt. (dpa)

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