Entwurzelte Gotteskrieger

Wie reagierte man in Iran auf die Terroranschläge vom 11. September? Der bekannte iranische Religionsgelehrte Hassan Youssefi Eshkevari schildert die besonderen Hintergründe dieser Reaktionen und begibt sich auf eine Ursachensuche für den Terror.

Von Hassan Youssefi Eshkevari

Den Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Centers in New York sah ich am 11. September 2011 im Evin-Gefängnis im Fernsehen. Ich hatte zwar das Gefühl, dass etwas außergewöhnlich Wichtiges geschehen sei, dachte aber nicht, dass dieses Ereignis am Anfang des dritten Jahrtausends dermaßen von Bedeutung sein und bald andere Ereignisse und Reaktionen nach sich ziehen würde, die die weltpolitische Szene der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts bestimmen würden.

Reaktionen in Iran

Das Echo der Ereignisse vom 11. September in der Welt war natürlich unterschiedlich. Hier möchte ich mich nur auf die Reaktionen in Iran beschränken. Diese unerwarteten und erstaunlichen Anschläge wurden in der iranischen Öffentlichkeit als ein schreckliches Verbrechen und eine menschliche Katastrophe angesehen und daher unmittelbar verurteilt. Zu dieser Zeit war die reformorientierte und gemäßigte Regierung von Mohammad Khatami an der Macht, das Parlament wurde mit großer Mehrheit von Reformisten beherrscht, in der Kultur, Presse und Politik dominierten die jungen Intellektuellen und Verteidiger der zivilen Gesellschaft, die für die Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen und Amerika eintraten.

Der iranische Präsident gehörte zu den ersten Regierungschefs, die die Katastrophe vom 11. September verurteilten. Ayatollah Montazeri, einer der höchsten religiösen Führer, begründete die Verurteilung dieses Blutbades auf der Grundlage religiöser Schriften. Auch das iranische Parlament verurteilte den Anschlag. Die Konservativen und Fundamentalisten schlossen sich nach einigem Zögern und in einer nebulösen Sprache dieser Verurteilung an. Auch Ayatollah Khamenei, Führer der iranischen Fundamentalisten, verurteilte in einer ihm eigenen Sprache die Anschläge. Besonders die iranische Jugend zeigte ihr Mitgefühl mit großer Offenheit und solidarisierte sich mit dem amerikanischen Volk und den Familien der Opfer, unter denen sich auch Iraner befanden. In einer symbolischen religiösen Zeremonie gingen junge Menschen in schwarzer Kleidung mit Kerzen auf die Straße und bezeugten ihre Sympathie. Auch falls sich unter diesen Bedingungen eine kleine extremistische anti-westliche Gruppe über die terroristischen Anschläge gegen Amerika gefreut haben sollte, konnte sie ihre Gedanken und Gefühle nicht offen zeigen.

Hintergründe der iranischen Reaktion auf den Terror

Diese Reaktionen in Iran haben besondere historische kulturelle und religiöse Hintergründe, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

Salafisten demonstrieren in Ägypten gegen koptische Christen; Foto: AP
Die Extremisten halten sich nicht an die religiösen Gebote des Islam, meint Youssefi Eshkevari: "Der Islam schützt Leib und Leben aller Menschen und aller Andersdenkenden für immer."

​​Erstens neigen die Menschen in Iran von Natur aus nicht zum Extremismus. Wenn wir die dreitausendjährige iranische Geschichte betrachten, beobachten wir diese iranische Eigenschaft, auch im Vergleich mit den Nachbarn, eindeutig. In den alten iranischen Religionen des Perserreiches von Anfang bis zum Ende der Sassaniden-Dynastie wurde die Gewalt abgelehnt und zu Liebe und Mäßigung aufgerufen. Zarathustra, Mani und Mazdak hatten bei der Verbreitung dieser Gedanken Großes geleistet. Das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker im Persischen Weltreich verstärkte den Geist der Toleranz und der Akzeptanz der anderen.

Die schiitische Ausrichtung des Islam spielte als zweiter Faktor in dieser Hinsicht eine effektive Rolle. Obwohl der Islam wegen der zehnjährigen Herrschaft des Propheten im siebten Jahrhundert in Medina die politischste der großen Religionen ist, bleibt jedoch die Tatsache, dass diese Religion grundsätzlich auf Frieden und Zusammenleben gegründet ist. Auch im Laufe der Geschichte waren die Muslime trotz ihrer anfänglichen Eroberungskriege und der inneren Konflikte in ihrem Verhalten grundsätzlich tolerant. Auch die Verbindung der Schia mit der iranischen Mystik hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Ebenfalls hat die Verbreitung der philosophischen Gedanken in der schiitischen Gesellschaft die Neigung zu Mäßigung und Friedfertigkeit in Iran vertieft.

Ein weiterer Faktor ist die profunde Kenntnis der westlichen Moderne und Kultur. Auch wenn die Iraner die westliche Kultur später als die nahöstlichen und indischen Muslime kennen lernten, so akzeptierten sie die Errungenschaften der modernen Welt um so schneller. Daher ist es kein Zufall, dass die Konstitutionelle Revolution im Jahre 1906, die zur Gründung einer modernen politischen Ordnung führte, die erste siegreiche politisch-religiöse Bewegung im Nahen und Mittleren Osten war. Diese Bewegung war von solch einer Bedeutung, dass der namhafte ägyptische Reformer Rashid Rida sie begrüßte und den Religionsgelehrten der Al-Azhar-Universität in Kairo empfahl, den schiitischen Geistlichen nachzueifern.

Friedliche Tradition im Islam

Hinzu kommt nun, dass auch der Islam als solcher, wie er auch interpretiert werden mag, die Tötung unschuldiger Menschen auf keinen Fall gutheißen kann. Kein islamischer Text gibt dies her. Ja, es gab in der frühislamischen Zeit Kriege unter dem Namen Dschihad. Auch im Koran wurde als politischer und militärischer Widerstand gegen die Feinde und Kriegstreiber zum Dschihad aufgerufen. Doch das war erstens als Widerstand gegen Bewaffnete und Soldaten gedacht und nicht gegen die Bürger in ihren Häusern und Heimstätten. Und zweitens folgte auch der Krieg bestimmten Gesetzen, deren Einhaltung zwingend war. Zum Beispiel wird im Koran ausdrücklich dazu ermahnt: "Sind sie [die Feinde] aber zum Frieden geneigt, so sei auch du ihm geneigt" (8,61). Sogar die Furcht vor einer List des Feindes darf nicht zur Ablehnung des Friedensangebotes führen. Wenn ein einfacher Soldat, aus welchem Grund auch immer, den Feinden während des Kriegsgeschehens Schutz gewährt, muss sein muslimischer Kommandant dieses Versprechen einlösen und seine Entscheidung respektieren. Dieses religiöse Gebot ist eine eindeutige Bemühung um die Erhaltung des Friedens und die Vermeidung des Krieges. Wichtiger noch: Es mahnte, bei jeder Militäraktion die Mudschahidin, die Frauen, Kinder, alten Leute, Mönche und Anhänger anderer Religionen – kurz gesagt: die Zivilpersonen – in Ruhe zu lassen und sie bei ihren landwirtschaftlichen Tätigkeiten nicht zu behindern. Die islamische Regel musta'man (unter Schutz stehend) schützt Leib und Leben aller Menschen und aller Andersdenkenden für immer. Im Koran heißt es ausdrücklich: "Wenn jemand einen unschuldigen Menschen tötet, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte." (5,32)

Beerdigung von Opfern eines Terroranschlags auf eine Kirche, Bagdad; Foto: AP
"Mir scheint, dass der Fehler der westlichen Analyse der Situation im allgemeinen und der Politiker im besondern darin liegt, dass sie die Ursachen des Fundamentalismus und des Terrorismus subjektiv im Islam und in religiösen Lehren suchen. Sie picken zusammenhanglos Koranverse und Überlieferungen aus den Texten der Tradition und der Scharia heraus, um gegen die Terroristen zu argumentieren", schreibt Youssefi Eshkevari.

​​Sogar im traditionellen Islam gibt es schließlich Regeln für den dar al-harb (Haus des Krieges) und den dar as-salam (Haus des Friedens). Man kann sie nicht einfach unter irgendeinem Vorwand verletzen. Nun, mit welcher religiösen Begründung muslimische Fundamentalisten und Terroristen Bomben legen, Selbstmordattentate begehen und unschuldige und unbeteiligte Menschen töten, ist unklar. Für sie gibt es keine Grenzen für Mord. Sie töten Menschen in der Moschee, zu Hause und in der Kirche. Sie unterfüttern dieses Verhalten auch mit keinen theoretischen Grundlagen und können keine religiösen Quellen vorweisen, auf die sie ihre Handlungen zurückführen. Aufgrund dieses unbegründeten Verhaltens der dem Islam zugeschriebenen Terroristen lehnen fast alle Muslime in der Welt diese Handlungen ab, und die Terroristen werden von den sunnitischen und schiitischen Religionsgelehrten verurteilt.

In Iran haben sich die jungen Menschen, die Intellektuellen und Anführer des politischen Kampfes, egal ob religiös oder areligiös, seit langem von der Idee der Gewalt und Revolution verabschiedet. Sie bemühen sich, auf zivilem und friedlichem Wege ihre demokratischen Ziele zu erreichen. Die Reformbestrebungen des letzten Jahrzehnts, insbesondere die Grüne Bewegung der letzten zwei Jahre, ist ein beredtes Beispiel für dieses Verhalten.

Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass ein kleiner Teil der iranischen Muslime extremistischen und gewalttätigen Gedanken anhängt. Es ist aber auch klar, dass diese Menschen dem herrschenden Regime angehören und mit seiner materiellen und geistigen Unterstützung Gewaltakte ausüben und nicht davor zurückschrecken würden, Verbrechen zu begehen. Sie sind zwar Schiiten, gleichen aber ihren sunnitischen fundamentalistischen Genossen in der arabischen Welt und stehen unter dem Einfluss der terroristischen Bewegung in den Nachbarstaaten. Sie werden daher mit Recht in Iran schiitische Taliban und schiitische al-Qaida genannt.

Die Wurzeln des Terrorismus

Über diese neue Erscheinung und die Möglichkeiten, sie abzuwehren, ist viel gesagt und geschrieben worden. Solange jedoch die sozialen und politischen Ursachen dieses Phänomens nicht beachtet und untersucht worden sind, wird auch nicht klar werden, wie die Abwehrmaßnahmen aussehen sollen, so dass jegliche Strategie erfolglos bleiben wird. Der zehnjährige Kampf mit militärischen Mitteln gegen die Taliban und al-Qaida und der allgemeine Kampf gegen den Terrorismus in Ost und West hat zu keinem Ergebnis geführt. Die NATO gibt praktisch zu, ihre Ziele in Afghanistan im Kampf gegen die Taliban nicht erreicht zu haben. Die Erhaltung des Status quo wird als Erfolg angesehen. Man sieht allmählich ein, dass man mit modernen Waffen und klassischen Armeen gegen die terroristische Ideologie nichts ausrichten kann.

Terrorist Muhammad Atta am Flughafen in New York; Foto: AP
"Die meisten jungen Menschen, die im Westen Terrorakte verüben - darunter die neunzehn Attentäter in New York - sind aus dem Westen oder zumindest westlich ausgebildet und haben keinerlei organisatorische und spirituelle Bindungen an die traditionell religiösen Institutionen", betont Youssefi Eshkevari.

​​Mir scheint, dass der Fehler der westlichen Analyse der Situation im allgemeinen und der Politiker im besondern darin liegt, dass sie die Ursachen des Fundamentalismus und des Terrorismus subjektiv im Islam und in religiösen Lehren suchen. Sie picken zusammenhanglos Koranverse und Überlieferungen aus den Texten der Tradition und der Scharia heraus, um gegen die Terroristen zu argumentieren. Wenn sie Verse im Koran über den Dschihad finden, schlagen sie gleichsam vor, diese kurzerhand aus dem Gesamttext zu streichen. Diesem Denken zufolge wäre ein Koran ohne Dschihad-Verse in Millionenauflage die Lösung. Denn wenn die Muslime dies akzeptierten, hätte man das Übel an der Wurzel gepackt und dem Terrorismus der Selbstmordattentäter und Dschihadisten den Garaus gemacht.

Soziale Faktoren

Bei näherer Betrachtung jedoch wird klar, dass dieses zerstörerische Phänomen vor allem ein soziales Problem ist, das durch eine Serie von historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren verursacht wird. Es wird weiterhin bestehen, solange die verursachenden Faktoren existieren. Natürlich spielen auf die Religion zurückgehende subjektive und kulturelle Faktoren beim Entstehen des islamistischen Terrorismus und Extremismus auch eine wichtige Rolle. Sie müssen ebenfalls erkannt und abgewehrt werden. Das geht aber nur dann, wenn wir einsehen, dass dies ein soziales und politisches Problem ist und auf objektive Faktoren zurückgeht.

Man kann aber auch weiter mit alten Mitteln gegen den Terrorismus kämpfen und jegliche Verschiebung in den Prioritäten als Holzweg betrachten und schließlich die Niederlage erleben. Man muss aber wissen, dass die Fundamentalisten, insbesondere die Gruppen, die Gewalt anwenden und terroristische Selbstmordattentate verüben, in aller Welt außerhalb der Kontrolle der traditionellen religiösen Institutionen und Autoritäten wie Moscheen und anerkannten Rechtsgelehrten stehen. Sie erkennen ihre Fatwas nicht an und glauben, dass sich die religiösen Führer mit dem westlichen Feind verbündet haben oder bestenfalls in ihrer konservativen Haltung gegenüber der ausländischen Herrschaft und den Feinden des Islam schweigen, so dass sie schließlich als Verräter anzusehen sind. Sie behaupten sogar, dass sie ihrer Religion abgeschworen haben und als Ungläubige bestraft werden müssen. Die Gruppe, die den früheren ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat ermordete, gehörte auch zu ihnen. Es ist kein Zufall, dass vom Anfang bis heute - seit der Gründung der Muslim-Brüderschaft im Jahre 1928 in Alexandria durch Hasan al-Banna bis zur Gründung al-Qaidas durch Osama bin Laden - alle Anführer und Gründer der extremistischen und terroristischen Gruppen keine Geistlichen waren, viele von ihnen sogar Universitätsstudien im Westen abgeschlossen hatten.

Beispielsweise war Shukri Mustafa, Führer der salafistischen Bewegung at-Takfir wa l-Hidschra, ein Ingenieur mit Universitätsstudium; Abbas Madani, Führer von al-Amal al-Islami in Algerien, ein Doktor der Philosophie aus Oxford. Die meisten jungen Menschen, die im Westen Terrorakte verüben - darunter die neunzehn Attentäter in New York - sind aus dem Westen oder zumindest westlich ausgebildet und haben keinerlei organisatorische und spirituelle Bindungen an die traditionell religiösen Institutionen. Wenn sich gelegentlich ein Geistlicher niedrigen Ranges hervortut und in einer Moschee Extremismus predigt, handelt es sich um eine Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Religion als Deckmantel

Daher betone ich, dass die extremistischen Gruppen, die Gewalt predigen und verüben, nicht auf die Lehren der Religion und die Belehrungen der Religionsführer hören. Sie stehen vielmehr unter dem Einfluss ihrer sozialen Umwelt und familiären Erziehung. Die Religion ist ein Deckmantel für alle anderen Gedanken, die aus anderen Quellen mit besonderen politischen Absichten gespeist werden. Ich möchte nicht behaupten, dass diese Menschen keine Muslime sind, sicherlich sind viele von ihren sogar fanatische Religionsanhänger.

Es geht aber darum, dass sie, insbesondere die jungen Menschen unter ihnen, keine tief gehenden Kenntnisse über ihre Religion haben, unter bestimmten sozialen Einflüssen stehen, so dass schließlich politische Gruppen ihre Unkenntnis und ihren Fanatismus für ihre rechtswidrigen politischen Zwecke missbrauchen. Das heißt aber nicht, dass wir darauf verzichten sollen, auch die religiösen Lehren und die traditionellen Dogmen gebührend zu untersuchen. Nach meiner Ansicht beeinflussen einige wichtige Faktoren diese Art von islamischem Fundamentalismus, der selbst ein Phänomen der Moderne ist, besonders nachhaltig:

Westlicher Kolonialismus

Obwohl zurzeit kein Kolonialismus und keine Kolonien in ihrer klassischen Form bestehen, sind die alten Wunden noch lange nicht verheilt. Die heutige Generation, insbesondere die zweite und dritte Generation der in den westlichen Ländern aufgewachsenen jungen Menschen, kann sich natürlich an solche Zeiten nicht erinnern. Doch das historische Bewusstsein ihrer Eltern in Indien, Ägypten, Syrien, Libanon, Tunesien, Marokko, Algerien, Irak usw. vermittelt dieses bittere Erbe an sie weiter. Seit der Gründung der East India Company durch die Briten im Jahre 1605 und die hegemonialen Bestrebungen des Landes in Indien und im Osten sowie seit der Landung Napoleons in Ägypten im Jahre 1798, die die kolonialistische Beherrschung Indiens und arabischer Länder zur Folge hatten, standen nahezu alle islamischen Länder direkt oder indirekt mehr als 200 Jahre unter der westlichen Herrschaft von Briten, Franzosen, Belgiern, Holländern und Italienern. Gegenwärtig beherrschen und besetzen die Vereinigten Staaten von Amerika einen Teil der islamischen Welt auf eine andere Weise. Dieses historische Ereignis ist nicht so trivial, dass man es aus dem kollektiven Gedächtnis der Betroffenen ausradieren könnte. Es ist kein Zufall, dass die meisten muslimischen Terroristen aus Pakistan und Afghanistan stammen.

Die zivilisatorische Unterentwicklung

Osama Bin Laden; Foto: AP
"Die Bevölkerung der ehemaligen Kolonien wird sich immer mehr dessen bewusst, welcher Abstand zwischen dem Norden und dem Süden des Erdballs herrscht. Sie halten die Europäer und Amerikaner dafür verantwortlich", meint Youssefi Eshkevari.

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Es ist eine Tatsache, dass Unwissenheit, Armut und Rückständigkeit, mit anderen Worten: zivilisatorische Unterentwicklung, die Hauptursache für Extremismus, Gewaltbereitschaft und verbrecherische Verhaltensweisen in der ganzen Welt ist. Aus diesem Grunde gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Verbrechen und der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Armut. Die Anhäufung von Verbrechen in den Randgebieten der Metropolen bestätigt diese Ansicht. Fast alle islamischen Länder, vor allem Pakistan und Afghanistan, leiden unter der Rückständigkeit auf allen Gebieten. Obwohl in diesen Ländern mehrheitlich säkulare und nicht-religiöse Regimes herrschen, und die politische Elite in diesen Ländern seit längerer Zeit - insbesondere seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Jahre 1924 - im Allgemeinen säkular, westlich modern orientiert sind, ist jedoch aus gewissen Gründen - darunter wegen der herrschenden Diktaturen in diesen Ländern - bislang keine erwähnenswerte soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung zustande gekommen. Die Bevölkerung dieser Länder wird sich immer mehr dessen bewusst, welcher Abstand zwischen dem Norden und dem Süden des Erdballs herrscht. Sie halten die Europäer und Amerikaner dafür verantwortlich und ihre eigenen Regierungen und politischen Führer für inkompetent und betrachten sie mit hasserfülltem Misstrauen.

Israel und die palästinensische Tragödie

Ich glaube, dass eigentlich niemand bezweifelt, dass die palästinensische Tragödie und die Gründung eines jüdischen Staates im Nahen Osten vor 60 Jahren ein wichtiger Faktor bei der Entstehung und Verbreitung fundamentalistischer und radikaler Gedanken in der islamischen Welt war. Ein Blick auf die jüngste Geschichte dieser Region seit der Besetzung Palästinas im Ersten Weltkrieg, auf die politischen und militärischen Auseinandersetzungen in diesem Gebiet im Laufe der drei Jahrzehnte mit den zionistischen und jüdischen Einwanderern und Invasoren bis zur Gründung des Staates Israel in Palästina im Jahre 1948 und auf die darauf folgenden Ereignisse zeigt eindeutig, wie weit der islamische und arabische Radikalismus der letzten Jahrzehnte von diesen Entwicklungen geprägt wurde.

Hassan Youssefi Eshkevari; Foto: DW
"Alle Anführer und Gründer von extremistischen und terroristischen Gruppen waren keine Geistlichen, viele von ihnen hatten sogar Universitätsstudien im Westen abgeschlossen. Der islamische Fundamentalismus ist ein Phänomen der Moderne", betont Youssefi Eshkevari.

​​Es besteht kein Zweifel daran, dass das Problem des Fundamentalismus und der radikalen anti-westlichen und anti-israelischen Gedanken in dieser Region unter den Arabern und den westlichen Muslimen nicht zu lösen sein wird, solange kein gerechter Frieden herrscht, in dem die Mindestrechte der Palästinenser und die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates garantiert sind.

Wenn die westlichen Staaten und die Vereinten Nationen nicht imstande sind, die psychischen und sozialen Folgen des Kolonialismus zu beseitigen, sollten sie zumindest versuchen, einen echten und dauerhaften Frieden in Palästina zu schaffen und Israel von der Fortsetzung der Siedlungspolitik abzuhalten. Andernfalls wird der Kampf gegen den Terrorismus zu keinem Ergebnis führen.

Der Weg in die Zukunft

Die Ereignisse des 11. September waren eine große Katastrophe, deren Folgen am Ort des Geschehens und in der ganzen Welt nicht zu übersehen sind. Es sieht ganz danach aus, dass die katastrophalen Folgen weiterhin unser Leben bestimmen werden. Es ist daher notwendig, die Ursachen des neuen Fundamentalismus unter den Muslimen und die Ursachen der terroristischen und verbrecherischen Handlungen, die das Leben der Menschen in Ost und West bedrohen, zu begreifen, sie umfassend und gründlich zu beschreiben, um diesem zerstörerischen Phänomen mit angemessenen Mitteln zu begegnen. Die Vereinfachung des Problems wird nicht zur Lösung beitragen, ganz abgesehen davon, dass wir es heutzutage nicht nur mit dem islamischen, sondern auch mit allen anderen religiösen und nicht-religiösen Fundamentalismen, unter anderem mit dem jüdischen und christlichen, zu tun haben. Das Mindeste wäre, dass sich die entwickelten westlichen Staaten einerseits um einen gerechten, für beide Seiten akzeptablen Frieden in Palästina bemühen, und sich andererseits glaubwürdig für Fortschritt und echte Entwicklung im Nahen Osten einsetzen, also für Freiheit, Demokratie und die Einhaltung der Menschenrechte. Wir wissen alle, dass die Welt so klein geworden ist, dass es Sicherheit und Frieden entweder für alle oder für keinen geben wird.

Hassan Youssefi Eshkevari

Hassan Youssefi Eshkevari ist schiitischer Geistlicher und war wegen seiner liberalen und demokratischen Ansichten im Gefängnis. Er hat Schriften des ägyptischen Reformdenkers Nasr Hamid Abu Zaid ins Persische übersetzt. Er gehört zu den so genannten religiösen Intellektuellen in Iran.

© Goethe-Institut/Fikrun wa Fann 2011

Übersetzung aus dem Persischen: Manutschehr Amirpur

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de